Für viele ganz und weniger jüngere Lübecker gehörte der Besuch an Bord der Weltausstellung besonders in den Ferien zum obligatorischer Standard. Als Schüler tauchte man direkt hinein in die Tierwelt und Völkerkunde, gruselte sich vor dem riesigen Haigebiss, und gleich daneben der komplette Mageninhalt eines erlegten bengalischen Tigers: Manschettenknöpfe, ein von Magensäure verätzter Schuh und eine noch funktionierende Schweizer Armbanduhr. Man spürte das Drama hinter dem imposanten weißen Schädel eines indischen Elefantenbullen, der zwei Tempelwächter getötet hatte.
Kapitän Kasten freute sich deutlicher Beliebtheit unter den Touristen, selbst unter den eingesessenen, hanseatisch-ungemütlichen Lübeckern. Sein markantes Schiff glänzte auf Postkarten und diente als Kulisse für Fernsehproduktionen und …
Zu dieser Zeit, es muss wohl Anfang der Achtziger Jahre gewesen sein, kamen durchschnittlich immer weniger Menschen auf die MS Mississippi. Kasten selbst wollte derartige Tatsachen nicht im geringsten sehen und verdrängte selbst die Bedenken seiner Frau.
Einen Steinwurf vom Hafen entfernt, direkt unter der Petrikirche im Kolk, gab es plötzlich ein neues Museum. Der Sohn des Puppenspielers Fritz Fey aus dem Puppentheater gleich nebenan, eröffnete ein Museum für Puppentheater, um seiner Sammelleidenschaft Raum und Sinn zu geben. Als Kameramann für Fernsehdokumentationen kam der Junior in aller Welt herum und sammelte historische Theaterpuppen und -figuren, die er nun wissenschaftlich angemessen und mit gehörigem kulturellem Respekt einer breiten Öffentlichkeit zur Verfügung stellte. Unkonventionelle Methoden gefielen Fritz Fey junior und so stellte er bald Schüler ein, die den Touristen und Lübecker Tagesbesuchern den richtigen Weg direkt in den Kolk weisen sollten. Und so war ich, natürlich nur in den Ferien sowie an den Wochenenden, damit beschäftigt, für den für mich damals nicht unerheblichen Stundenlohn von sechs Mark Werbeaussteller an die Holstenstrasse und Obertrave aufzustellen, die sehr stilvoll illustriert auf den direkten Weg zu diesem versteckt gelegenen Museum hinwiesen. Und nachmittags wurde ich, als Clown geschminkt und kostümiert, mit einem überdimensionalen Hampelmann aus Sperrholz, in die Breite Strasse gestellt. Immer schön grinsen und an der Schnur ziehen, das Männchen hampeln lassen und auf Abruf artig und freundlich den Weg zum Puppenmuseum erklären. Nach kurzer Zeit kannte mich die ganze Stadt; zumindest vom Sehen. Auch Kasten kam vorbei, grinste und besah mich in meinem komischen Aufzug, während ich monoton aber rhythmisch an den Schnur zog, damit sich der Hampelmann bewegte. So, so – nun wäre ich also „Werbefachmann“, wie er es nannte. Was ich denn so die Stunde über verdienen würde, wollte er wissen. Und ob ich denn irgendwo oder irgendwie angemeldet sei, dass würde ihn mal interessieren.
Er nahm einige Meter Abstand, betrachtete mich und strich sich durch seinen Bart. Er brütete irgendetwas aus und ich fragte mich, was das wohl sein könnte.
Einige Wochen später leistete sich Kasten dann selbst einen persönlichen „Werbefachmann“. Ein großer, schmächtiger bebrillter Junge mit einer viel zu großen Kapitänsjacke mit entsprechenden goldenen Kolbenringen an den Unterärmeln und einer entsprechenden Kapitänsmütze auf dem Kopf schlurfte plötzlich über die Breite Strasse. Er trug ein doppelseitiges blaues Plakat der Überseeausstellung auf der MS Mississippi, das an einer Holzstange befestigt war die er an seine Schulter drückte und mit einer Hand lässig hielt. Die andere Hand steckte in seiner Kapitänsjackentasche. Man grüßte sich sofort kollegial und kam schnell ins Gespräch. Das der Junge nichts von Kasten hielt, daraus machte er keinen Hehl. Der Kapitän war für ihn offenbar nicht mehr als ein alter Spinner, soviel war klar. Die Überseeausstellung, die damals ein nicht unerheblicher Fundus meiner fantasievollen Inspiration war, schien ihn nicht im Ansatz zu interessieren, geschweige denn zu faszinieren.
Es wäre vielleicht eine interessante Idylle entstanden. So eine Art „Dschungel“ in der Innenstadt, ein Biotop inklusive skurriles Individuum. Doch ehe es soweit kommen sollte, musste es auch schon zu Ende gehen – bevor man es sich überhaupt vorstellen konnte, war es auch schon geschehen.
Es begann damit, dass Asta Roberti der MS Mississippi einen Besuch abstattete. Asta war die Schwester von Heinz und konnte zuerst überhaupt nicht glauben, was Heinz der Überseeausstellung erzählte: von wegen Schrumpfköpfe, ausgestopfte Affen und so weiter. Und über diesen kolonialistischen Kapitän. Der doch ganz sicher auch grundsätzlich rassistisch gefärbt ist, und sexistisch. Das es sowas überhaupt heute noch gibt. Das wollte Asta einfach mal aufklären. Und irgendwie dokumentieren.
Irgendwann sollte Kapitän Kasten plötzlich eine weitaus höhere Liegegebühr zahlen, als in den Jahren zuvor. Ein deutliches Signal aus dem Rathaus, dass keine Lobby mehr vorhanden sah. Durchaus war nämlich in den Jahren zuvor den städtischen Verantwortlichen völlig klar, eine solche Attraktion wie die Übersee-Ausstellung in Lübeck auf alle Fälle halten zu müssen, ein subventionierter Liegeplatz ist da ja nur das kleinste.
Plötzlich sah man das offenbar anders.
Die eigentliche Demütigung war für den Kapitän nicht etwa die Tatsache, diese höhere Gebühr nicht zahlen zu können, sondern folgender Umstand: Er kam auf die fatale Idee, mit Exil zu drohen: Wenn er nicht mehr länger am Holstentor
Und dann war der Kapitän weg. Ich hatte lange nichts von ihm gehört, bis dann erzählt wurde, dass er sein Schiff nicht mehr länger halten konnte, sein Schiff liegt in irgendeinem Hafen, hoffend wartend auf neue Subventionen, auf einen Umbau, wieder zurück zum ursprünglichen Dampfbetrieb, um dann eine allerletzte Gnade als total restaurierter Oldtimer zu bekommen. Um dann vielleicht doch noch verkauft zu werden, ganz lukrativ. Oder endgültig abgewrackt zu werden, dieses Mal aber richtig und wirklich und für alle Ewigkeiten. Dann gründete sich ein Traditionsverein, der das Schiff mithilfe der Denkmalpflege kaufen und retten wollte.
An Kapitän Kasten und seiner Ausstellung erinnert auf dem Schiffskörper nichts weiter als eine kleine Messingplakette in der künftigen Messe. Keine Erinnerungen mehr an Kap Horn, dem Bermuda-Dreieck oder dem Tod, dessen Sense der kühne Seemann doch immerhin ganze vier Mal konnte ausweichen.
Das Schiff soll sich irgendwo in Rostock in einer Art Dauerrestaurierung befinden, aber viel interessanter war in diesem Zusammenhang, dass der alte Kapitän noch irgendwo leben sollte und seine Ausstellung immer noch betrieb.
Seine Exponate, all die unzähligen Dinge seines Abenteuerlebens, wurden zerrissen, in alle Welt zerstreut und in seine Einzelteile verramscht; im wortwörtlichsten Sinne – auf eBay im Internet finden sich noch heute vereinzelt Teile, „aus der Sammlung Reinhold Kasten“, zu horrenden Summen und mit, zum Teil, haarstäubenden Beschreibungen. Der alte Kapitän bekam von diesen Dingen natürlich auch noch mit 90 Jahren etwas mit und es scheint, als ob ihm diese letzte Demütigung endgültig das Herz brach, denn im darauffolgenden Jahr starb Reinhold Kasten.