Die guten Ideen, also die wirklich guten Ideen, kommen eher selten. Die Idee mit der Kempowski-Safari war so eine, sogar eine der besten, die ich je hatte.

Die „deutsche Chronik“ hatte mich voll gefangen, die Familiengeschichte der Familie Kempowski aus Rostock hatte viel mit meiner eigenen Familiengeschichte zu tun. Im Gegensatz zu denen waren mir die Kempowskis sogar viel näher; hört sich jetzt vielleicht komisch an, ist aber ein Beweis dafür, wie kraftvoll Literatur sein kann.
Ich darf an dieser Stelle aber nicht unterschlagen, wie kraftvoll die Fernsehverfilmungen von Eberhard Fechner zu diesem Eindruck beigetragen haben. In den Siebzigern, irgendwann um die Weihnachtszeit, wurde der Fernsehmehrteiler ausgestrahlt, ununterbrochen zitierte mein Vater die Gebrüder Kempowski.
Schon lange vor dem Mauerfall hatte ich die Idee, in den Osten nach Rostock zu fahren und mich da dann auf Spurensuche zu begeben.
Es war eher so eine intellektuelle Fantasie, Mauerfall und Wende waren noch kurz vor dem November 1989 völlig untypisch, ich kannte ja nichts anderes als die Realität des „eisernen Vorhangs“.
Ein Traum, diese literarische Spurensuche im historischen Kempowski-Land. Ich wollte die echten Orte aus den Romane von Walter Kempowski sehen und besuchen: das Haus der Familie in der Augustenstrasse, die Schule, das Kriegerdenkmal mit der Inschrift „Pinsel und Topp“, die Marienkirche.
Nach Dingen suchen, die einem aus den Bücher bekannt waren. Vielleicht, so mein verwegener Plan, würde man sogar Zeitzeugen treffen. Dicker Kahl oder Subjella.
Mindestens eine zerfledderte Ausgabe eines Taschenbuchs von „Tadellöser&Wolff“, so erzählten sich Fans, sei während der Ostzonenzeit unter den Alt-Rostockern kursiert.\
Ob man sich wohl jetzt in Rostock für Walter Kempowskis Bücher angemessen interessieren würde? Also auch amtlicherseits?
Eigentlich hätte man sich zuvor noch eine genaue Liste machen sollten, ein ordentliches Quellenstudium betreiben müssen, um vor Ort dann alles ganz genau und auch schnell zu finden. Aber aus irgendwelchen Gründen, die ich mir bis heute nicht verzeihe, habe ich das versäumt. Nun, die Ausführung der Kempowski-Safari kam dann ja auch sehr spontan. Es ist also nie gut, wenn aus einer guten Idee eine fixe Idee wird.
Auf jeden Fall mussten auf diesem Abenteuer Fotos gemacht werde, ich plante deshalb genug Filme ein.
Eigentlich wäre es ja eine ideale Geschichte für ein Magazin. Für „TEMPO“ oder den „stern“. Ich war mir allerdings sicher, nicht den Hauch einer Chance zu haben, diese Geschichte bei einem dieser Blätter unterzubringen. Ich hätte es persönlich einem Redakteur vorstellen sollen, doch dazu fehlte mir einerseits Selbstvertrauen, andererseits wußte ich, dass Walter Kempowski zu dieser Zeit als politisch schwierig galt. Also lieber nicht, ich war zu unerfahren.
Ich fragte Max, ob er Interesse hätte mitzufahren und mir sozusagen zu assistieren, schon wegen der Fotos. Außerdem kannte ich außer meinen Vater niemanden, der mit dem Namen Kempowski etwas anfangen würde und würdig wäre, mich zu begleiten.
Wir vereinbarten, diesen Tripp am letzten Wochenende des Jahres durchzuführen. Kurz vor Silvester hätten die Leute schliesslich mehr mit sich selbst mehr zu tun, da fallen so zwei wie wir aus dem Westen überhaupt nicht auf. Dachte ich.


Passend dazu wollte ich mir von einem entfernten Verwandten einen Opel Kapitän ´48 mit Portaltüren, Baujahr 1950, leihen. Da der wußte, dass ich vernünftig mit solchen Fahrzeugen umgehen konnte, vertraute er mir dieses äußerst wertvolle und alte Fahrzeug an. Dass es in die DDR gehen würde, erzählte ich ihm nicht. Aber ich musste standesgemäß dorthin.
Ich fuhr also Freitag, jenem 22. Dezember 1989, in dem alten Opel von Hamburg nach Lübeck.
Im Autoradio verkündete ein Sprecher auf NDR 2, dass heute in Berlin das Brandenburger Tor geöffnet werden soll.


Ich freute mich und war mir sicher, in Sachen Kempowski der allererste Scout zu sein.
Ich wollte Max an einer Tankstelle gegen neun Uhr abholen, so war es vereinbart. Ausdrücklich erwähnt war leichtes Gepäck.
Eigentlich wollte ich dann nach Travemünde, mit der Autofähre zum Priwall hinüber und versuchen, die Grenze nach Mecklenburg zu überqueren. Wenn schon Abenteuer, dann richtig.
Nachdem Max zugestiegen war, erklärte er mir dann aber, dass der Grenzübertritt nur in Schlutup möglich sei. Ansonsten sei die Grenze dicht und es wäre viel zu gefährlich, auf eigene Faust über den Todesstreifen zu wollen, „Minen“, warf er warnend ein. Das klang so plausibel wie vernünftig und so hielt ich mich rechts Richtung Schlutup. Unwissend, wo ich mich eigentlich befand. In Lübeck war ich vorher schon mal gewesen, an der Ostsee in Travemünde und natürlich auf dem Weihnachtsmarkt, aber doch nicht in Schlutup, am Arsch der Welt. Aber ich vertraute Max, der war ja lübeckischer Lokalpatriot.
Am Grenzübergang wurden wir dann beide doch zunehmend aufgeregter. Irgendwie konnte ich mir noch nicht richtig vorstellen, wirklich von denen über die Grenze gelassen zu werden.
Aber vor Ort ging der Übergang dann doch sehr reibungslos vonstatten. Die andere Spur, vom Osten in den Westen, staute sich mit kleinen, grauen Autos. Ich fuhr in Schrittgeschwindigkeit an dem Grenzerhäuschen vorbei, doch niemand nahm jegliche Notiz von uns. Dabei hatte doch fest damit gerechnet, zumindest nach dem Ziel der Reise gefragt zu werden um dann militärisch korrekt „Verwandtenbesuch in Rostock!“ zu antworten. Aber nichts.
Max hatte extra seinen Pass hervorgeholt, hoffte auf einen Stempel, wobei ich mir zumindest sicher war, dass ein Visum jetzt überhaupt nicht mehr interessieren würde.
Als wir dann hinter dem Grenzübergang durch Selmsdorf fuhren, wo es seltsam ruhig und kaum jemand auf den Strassen unterwegs war, guckte ich noch mehrmals in den Rückspiegel, sicherheitshalber, doch niemand folgte uns. Wir fuhren wir entschlossen weiter gen Osten, der aufgehenden Sonne durch den Nebel entgegen, mit der ein langer Zug von Trabanten, Wartburg und auch einigen Lada, sich entgegengesetzt in den Westen, fortbewegte.

(…)


EINGETAUCHT!-Textproben

1.3. das Swing-Kid – der alte Herr

Ich dachte mir, dass gehört zu einem Rostock-Besuch einfach dazu, mal ein bisschen in Warnemünde herumgehen. Zwischen Tee-Post und Neptun-Hotelkomplex …

1.2. das Swing-Kid – die Kempowski-Safari

Die „deutsche Chronik“ hatte mich voll gefangen, die Familiengeschichte der Familie Kempowski aus Rostock hatte viel mit meiner eigenen Familiengeschichte …

1.1. das Swing-Kid – am Anfang

Im ersten Teil von „eingetaucht!“ geht es um die Begegnung mit Max Foerde im Hamburg des Jahres 1989 – die …

Das Outing

Max kannte ich aus meiner Schulzeit in Hamburg. Ein Freund, von heute auf morgen verschwand und schnell vergessen war. Bis …

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