Im ersten Teil von „eingetaucht!“ geht es um die Begegnung mit Max Foerde im Hamburg des Jahres 1989 – die deutsch-deutsche Wende und der Fall der Mauer steht kurz bevor. An einer Schule treffen sich zwei Gleichgesinnte und erleben historische Wochen und Monate – kurz bevor Max eintauchte.
Textauszüge aus dem Arbeitsentwurf
Max Foerde, der eigentlich einen ganz anderen Namen hatte, lernte ich unmittelbar um die Wendezeit kennen. Max Foerde war sein Deckname, der in diesen Aufzeichnungen auch zum Schutz seiner Person beibehalten wird.
Dieser Deckname ist längst verbrannt und sollte ein Zeitzeuge die nun folgenden Zeilen lesen und sich erinnern, soll es so sein. Als ich Max kennenlernte, das war mittlerweile schon vor über dreißig Jahre, begann das ganze Land in einen Rausch zu geraten.
Es war um 1989, während diesen komischen Wochen, kurz bevor die Berliner Mauer fiel.
Damals war mir überhaupt nicht bewusst, wie historisch jene Tage waren und ich glaube, auch Max war sich darüber nicht im Klaren, allerdings bin ich mir bei dieser Frage heute nicht mehr ganz sicher.
Jedenfalls hatten wir beide dann nichts besseres zu tun, als nach Rostock zu fahren und uns auf eine Kempowski–Safari zu begeben, gleich nachdem ein solcher Trip möglich war.
Wir waren beide Schüler an der Hamburger Fachoberschule für Grafik und Gestaltung, sozusagen der Vorschule der Hamburger Kunstschule am Lerchenfeld.
Ich persönlich bin dort, dass gebe ich gerne zu, eher aus reiner Verlegenheit gelandet. Ich hatte eigentlich gar keine Ahnung, was ich dort lernen sollte, fand aber „Grafik und Gestaltung“ bereits begrifflich sehr interessant.
Schliesslich musste ich auf irgendeinem Weg an das Abitur kommen, wegen der Familienehre war das absolut wichtig und völlig klar. Wir wusste noch nicht, was wir werden wollten, bildeten uns aber ein, Künstler zu sein, oder irgendetwas in dieser Richtung.
Auf jeden Fall waren wir zu schlecht für die regulären Gymnasien und wußten das auch.
Kurios erscheint es rückblickend, dass solche Leute wie wir im Klassenraum immer nebeneinander platziert werden.
Die historischen Wendemonate waren oberflächlich betrachtet alles andere als aufregend. Alles fing eigentlich eher unspektakulär an.
Dann in den Sommerferien, bevor es in der neuen Schule losgehen sollte, wurden die Nachrichten im Fernsehen immer interessanter.
Im geteilten Land ging bisher alles seinen typisch deutschen bürokratischen Gang, wie ich es schon seitdem ich denken konnte, gewohnt war.
Dort drüben schien das sozialistische Deutschland langsam wieder bankrott zu gehen, doch ich war mir sicher, dass es bald für Ostberlin irgendwelche neuen Milliardenkredite gab. Dann tat sich etwas, im anderen Deutschland.
Nach den ersten, zaghaften Demonstrationen und Unmutsbekundungen wurden die Menschen dort immer mutiger, die Demos immer größer. Ausgegangen ist jener Mut von Signalen aus Moskau, die später als „Perestroika“ und „Glasnost“ bezeichnet wurden und scheinbar eine ehrliche Abkehr vom Stalinismus bedeuteten.
Eine Annäherung, die von beiden Seiten ausging: Plötzlich konnte man in der „BILD“ lesen, dass man dort künftig auf die Anführungsstriche vor und nach der Bezeichnung „DDR“ verzichten wolle.
Ein kleiner, typographischer Wink, um diesen Staat nicht anzuerkennen.
Mein Vater, der damit selbst seine Erfahrungen gemacht hat, sprach stets von einem Unrechtsstaat – weder deutsch, nicht demokratisch und keine Republik“.
Doch das schien jetzt vorbei, Mitleid verdrängte jegliche politischen Vorbehalte. Über Ungarn kamen im Sommer 1989 immer mehr „Ostdeutsche“ ins Land, auch nach Hamburg.
Wir mussten zu dieser Zeit, parallel zum ersten Schuljahr, ein Praktikum in einem fachbezogenen Betrieb absolvieren.
Ich fand eine Stelle in einer Werbeagentur am Gänsemarkt. „Knollens Team“, nannte sich der Laden.
Der Chef dort, ein geselliger Typ mit Vollbart, eigentlich ein linker Redakteur einer Hamburger Szenezeitung, gabelte dann irgendwann am Hauptbahnhof Übersiedler aus der DDR auf, die wohl aus Ungarn „rübergebracht“ hatten, sogar zu den berühmten Botschaftsflüchtlingen gehören sollten. Da wehte dann richtig der Hauch der Geschichte.
Wir hatten keine „Verwandten in der Ostzone“, wie zuhause stets betont wurde, deshalb waren die Zwei für mich ganz interessant, ich hatte bisher keine „Ossis“, wie wenig später gesagt wurde, gesehen.
Die beiden sächsischen Maurer, die ihre Familien zurückgelassen haben und jetzt Arbeit suchten, sassen da also in der modernen, komplett kapitalistisch ausgerichteten Werbeagentur der Knollens, wirkten ganz offensichtlich kolossal überwältigt, sichtlich ratlos und masslos überfordert.
Immerhin liess der Chef sie nachts in der Agentur pennen, zwischen den Zeichentischen auf herbeigeschafften Schlafsäcken, da mussten sich sich keine Sorgen um die Übernachtung machen. Als ich dann so über den Lichttisch beugte und auf den aufgerollten Schlafsack drunter trat, wurde mir eigentlich erst der Ernst dieser historischen Lage überhaupt richtig bewußt. Daran erinnere ich mich heute noch ganz genau.
Morgens, wenn gegen zehn Uhr mit der Arbeit angefangen wurde, lagen die Leute dann meist noch in ihren Schlafsäcken, völlig verpennt und träge. Es wurde wohl auch ziemlich gesoffen. War aber alles egal.
Bis dann einige Tage nach dem Mauerfall die Frauen, oder Freundinnen, im Treppenhaus standen. Schreierei und Weinkrämpfe, ganz großes Drama, ganz viel echte Geschichte.
Aber bewusst war einem das damals, zu dieser Zeit, natürlich nicht.
Man war, wie immer in der Gegenwart, eben mit seinem Kram beschäftigt.
Also überwiegend mit der Schule.
Die Klasse, in die es nach den Sommerferien Anfang August ging, bestand aus mehreren Gruppen: aus den kunstbegabten Schüler mit Talent, den Zwangsläufigen mit Fleiß; dazwischen mehrere gelangweilte Punks, einige mit Bezug zur Hamburger Hafenstrasse, viele mit unerkennbarer Motivation, zwei oder drei, die kaum wahrgenommen wurden und natürlich der obligatorische Klassenclown.
Ich zählte mich selbst, als Beobachter, natürlich nicht dazu. Es handelte sich also um eine zähflüssige, eher träge Truppe aus Schüler, die sich dann am ersten Tag in dem großen Auditorium am Steinhauer Damm einfanden.
In der Fachrichtung „Grafik und Gestaltung“ würden uns, man ahnt es bereits, grafische und gestalterische Grundlagen vermittelt werden, die am Ende der Schulzeit für das Fachabitur qualifizieren sollten.
Das anschliessende Studium an der Kunsthochschule war, zumindest für mich, jedoch eine ferne Utopie. Von den durchschnittlich 1400 erfolgreichen Absolventen der Fachoberschule würden nicht mehr als 170 Bewerber zum Lerchenfeld wechseln. Undenkbar also.
Max gehörte zur kunstbegabten Gruppe. Immerhin.
Er fotografierte und war in der Lage, seine Abzüge im Labor zu entwickeln. Das war eine Fähigkeit, die einen gewissen Vorsprung versprach. Wozu er zu dieser Begabung noch unbedingt ein Fachabitur wollte, war mir damals nicht klar.
Ich meine, wenn man fotografieren will, soll man es doch einfach tun. In Farblehre, Zeichnen und auch Mathe war er aber ganz und gar nicht durchschnittlich, sondern ausgesprochen schlecht. Wohl nicht aus Dummheit, sondern aus reiner Interessenlosigkeit.
Und wohl auch Faulheit, denn für Mathe, beispielsweise, interessierte ich mich auch nicht, strengte mich aber an, damit ich nicht vor jeder Zeugnisausgabe ins Schwitzen kommen musste. Aber während der ersten Politikstunde verblüffte mich dieser blasse, blonde Junge.
Er fragte bei diesem neuen Lehrer nicht einfach nach, sondern begann eine ausgedehnte Unterhaltung, führte diese bald an, dozierte dann nicht selten fast.
Und wußte Bescheid: über Adenauer, Erhard und dem Wirtschaftswunder.
Darüber sollte es die ersten Wochen lang gehen.
Max wollte noch wissen, ob es auch um den Übergang zu Brandt-Ära gehe, da könnte er als Lübecker etwas erzählen.
Fast nervte er schon die Klasse mit seinem Nischenwissen.
Er zitierte Herber Wehner und ich hielt ihn deshalb anfangs für einen Linken, so Typ Juso.
Dann kam er aber wieder auf Goebbels und Speer zu sprechen.
Tischgespräche mit Adolf Hitler als eine Art Nummer.
Spöttisch und zynisch zugleich, zwanghaft um Lacher bemüht.
Rechts war er aber auch wieder nicht. Politisch irgendwie nicht einzuordnen. Fand ich.
Ich kam mit ihm schnell ins Gespräch, wir entdeckten gleiche Interessengebiete und schätzten offenbar dieselbe Art Gags.
An einem Wochenende wollte ich dann mal ins „Kir“, das war so eine Art Club in der Max-Brauer-Allee, irgendwo hinter der Sternbrücke.
Hamburgs schönster Schuhkarton, hiess es.
Da sollte so eine Art neuer Jazz gespielt werden, was mich neugierig machte. Außerdem sollte das Kir ein Mod-Schuppen sein und ich dachte, Max würde könnte sich da etwas auskennen oder interessieren und so fragte ich ihn dann spontan, ob er Abends nicht mitkommen wolle.
Und so gingen wir dann mit drei oder vier anderen Leuten aus unserer Schule vom Sternschanzen-Bahnhof zu diesem „Kir“.
Flo, Klassenclown und auf irgendeine Art zu den Punks zählend, war auch dabei und baute unter der Sternbrücke einen Joint.
Ich fragte Max bei dieser Gelegenheit ganz spontan, ob er denn nun eher „links“ oder doch „rechts“ einzuordnen wäre. Auch wenn dies etwas unverschämt erscheint: Damals wurden solche Fragen noch als eine Art Gag zur Kenntnis genommen.
Heute darf man sowas nicht mehr fragen, es wird eher ganz penetrant und übergriffig festgelegt, was man sei, wenn man zu irgendeinem Thema irgendeine Meinung hat, die dem anderen nicht passt. Oder es wird hinter dem Rücken getuschelt: „Vorsicht – ein Gutmensch, ein Linker“, oder „Achtung: der (oder die) da ist Rechts! Ein ganz übler Nazi, Rassist, etcetera…“
Und manchmal kommt es auch zu einem Handgemenge.
Ganz übler Gesinnungsterror, wie ich finde.
Damals war das aber noch völlig anders.
Max antwortete wie aus der Pistole geschossen, er sei „entschieden antitotalitär“, was mich ziemlich überraschte, Flo jedoch kaum beeindruckte, er baute weiter an, hantierte dabei mit drei kleinen Zigarrettenpapierchen, von denen eines in seinem Mundwinkel klebte. Das sah eklig aus, aber ich rauchte damals auch noch nicht so etwas.
„Was heißt denn antitotalitär?“, fragte ich Max, denn bis dahin habe ich sowas noch nie gehört. Natürlich wußte ich, was mit dem Begriff oder Modell des Antitotalitarismus zu verstehen ist, Hannah Arendt und so weiter, es war mir jedoch neu, dass sich jemand als antitotalitär bezeichnen würde.
Flo liess seinen Joint unter uns kursieren.
Max lehnte erst, wie ich auch, entschieden ab, griff dann aber doch zögerlich nach dem Papierröllchen. Nach vorsichtigen, hüstelnden Zügen gab er dann zu, sowas vorher noch nie gemacht zu haben. Jugendkulturen lassen sich eben nicht in einer Nacht erobern. „Antitotalitarismus“, dozierte er dann, sei „der einzigste Weg der politischen Mitte! Die absolute Abgrenzung zum radikalen Rand, der konsequente Verzicht des Totalitarismus als politische Moral!“ Max begann sich in Rage zu Reden: „Das gesellschaftliche Recht durch das Privileg der absoluten Gewaltlosigkeit!“
Er fing fast an zu schreien und ich war mir damals sicher, dass er sich Jesus nahe fühlte, dass gar nicht hysterisch.
Ich hielt Max für ziemlich unterhaltsam und, situationsbedingt, für recht komisch. Flo konnte Max nicht ausstehen, schon gar nicht, weil sich Max als antitotalitär bezeichnete.
Seiner Meinung sei Veränderung, also etwas neues, ohne Radikalität nicht machbar.
Deshalb wäre er auch Künstler und Punk geworden. Radikalität führt nunmal zur Totalität, basta, das erklärte mich Flo dann, als Max im „Kir“ kurz auf Klo war. Mein Einwand, dass Max und Flo vermutlich völlig unterschiedliche Aspekte meinen, liess er nicht gelten: „Paperlapapp!“ – Jeder anständige Mensch habe eine Gesinnung, meinte Flo im breiten norddeutschen Akzent absoluter Überzeugung. Antitotalitarismus wäre etwas für Feiglinge, für Angsthasen, die das Leben fürchteten.
Ihm, Flo, sei jeder aufrechte Nazi lieber, als so ein Antitotalitärer.
Einen Nazi würde er zwar hassen und bekämpfen, aber auf Augenhöhe! Ein Antitotalitärer ist ihm hingegen egal, so einer würde er höchstens verachten.
Dann kam Max zurück.
Im Politikunterricht hatten wir Fritz Stiller, so hieß der Lehrer.
Herr Stiller war eher so ein älterer Freak mit Schnauzer, so einer, der nicht richtig zu den anderen Lehrern passte. Trotz seines braunen Wollpullunders.
Das wusste er wohl selbst, vielleicht betonte er deshalb auch so oft, Seiteneinsteiger zu sein.
Er war also stolz, kein „richtiger Lehrer“ zu sein.
Wir fanden diesen Stiller deshalb ganz gut. Seinen Politikunterricht fanden wir auch gut, zumindest Max und ich. Die meisten anderen in unserer Klasse waren auch da überwiegend auf gleichen Niveau gelangweilt.
Jedenfalls waren wir im Politikunterricht wohl ziemlich die Klassenbesten.
Max war sogar nach Noten noch besser als ich.
Die Wochen unmittelbar nach der Grenzöffnung waren dann ziemlich wild. Feiertagsstimmung lauerte fast überall. Es lief vieles kreuz und quer, das war sogar bei uns auf der Schule zu spüren. Der Windhauch der Geschichte war nun also bis nach Hamburg hoch deutlich zu spüren. Zuhause liefen unentwegt die Nachrichten.
Als die Massen schliesslich die Berliner Mauer enterten und es dann klar wurde, dass der Arbeiter- und Bauernstaat mit seinen Grenztruppen und der Volksarmee nichts dagegen taten, schienen die Tatsachen auf der Strasse entschieden worden zu sein.
Übrigens ist bis heute völlig unbekannt, wer eigentlich als Erster den Mut hatte, die Mauer zu erklimmen. Was aus dem wohl geworden ist und ob er sich seiner historischen Tat eigentlich wirklich bewusst ist?
Meinem Vater schien klar, dass es auf eine deutsch-deutsche Wiedervereinigung herauslaufen würde. Er starrte minutenlang in die Ecke. „Das wird teuer“, murmelte er, „das wird sehr teuer.“
Er sollte leider nicht mehr erleben, wie wahr er mit seiner Prognose lag, was ich damals nicht ahnte. Naja, wer weiß, wofür es gut ist.
An den anschließenden Wochenende war auch in Hamburg der Teufel los.
Komische Autos der Marken Trabant und Wartburg verpesteten die Luft und verstellten die Gehwege.
Es wurde immer mehr gefeiert, zwischen den Wochenenden wurde noch viel mehr Schule geschwänzt.
Wenn man dann mal doch in der Fachoberschule war, hing man in der Mensa herum und wartete, weil wieder unklar war wo, und vor allem, ob Unterricht stattfand.
Oder man wartete in der Klasse auf die stets verspäten Lehrer und döste, wie unsere linken Punkvögel, den ganzen Schultag vor sich hin. Die Punks mussten sich wahrscheinlich von der ganzen Feierei ausruhen, wobei denen ja eigentlich überhaupt nicht zum Feiern zumute sein dürfte, aus politischen Gründen, bei denen hieß es ja „Wider-Vereinigung“, anstatt „Wiedervereinigung“.
Manchmal kamen auch die Lehrer nicht. Und wenn dann, waren sie froh, das überhaupt noch jemand von uns da war und tolerierten die psychische Abwesenheit der Leute.
Nach einigen Tagen wurde es langweilig, die kreuz und quer parkenden Plasteautos aus dem Osten nervten langsam, weil sie überall im Weg standen, sich förmlich zu vermehren schienen. Angeblich gab es ostdeutsche Fahrer, die ihre Pappkisten einfach irgendwo stehen liessen, weil sie sich einen westdeutschen Gebrauchtwagen kauften und damit nachhause fuhren. Manchmal sollen die Autoschlüssel in einem Umschlag hinter den Scheibenwischern geklemmt haben.
Da wird noch einiges mehr als nur Trabbis auf uns zukommen, prophezeite Max düster während der Politikstunde.
Herr Stiller verplauderte sich plötzlich über Anekdoten aus seiner Bundeswehrzeit. Er sei Berufssoldat gewesen, erzählte er, ursprünglich bei den Funkern. Dann Funkaufklärer, „auch bei den Diensten“, wie er bedeutungsvoll mit Pause betonte, womit aber keiner von uns etwas anfangen konnte. Er sei dann, irgendwann in den Siebzigern, bei den Aufklärern in der Nähe von Bonn gewesen.
Max stiess mich seitlich mit dem Ellenbogen an, „in den Siebzigern! Stell´ Dir mal vor – da war man gerade geboren.“
Stiller hätte in Bonn so einiges abhören und schützen müssen, „kalter Krieg“, da hätten sich ja die Gegner aus dem östlichen Nachrichtenbereich fast gegenseitig auf die Füsse getreten.
Dort hatte er mit sämtlichen NATO Geheimdiensten zu tun gehabt. Eines Tages saß er im Zug, bei Sankt Augustin stieg ein Bundestagsabgeordneter zu.
Stiller erkannte den Mann und wußte, dass,- da wurde der Lehrer von einem Punk unterbrochen, der nach einer Pause fragte.
Nach der Stunde hielt uns Stiller vor der Klassentür auf und zog uns beide kumpelhaft an die Seite. Was das eben wohl sollte? Eigentlich ja unerhört – was wir davon hielten? Was diese Herren, dabei guckte er den Punks abschätzig hinterher, die mit den anderen über den Flur nach draußen strebten, sich bei ihren Unverschämtheiten wohl denken? Für was die sich halten… Überhaupt. Eigentlich hätten wir doch in diesem Haufen überhaupt nichts zu suchen.
Dabei: Wir wären seine besten Männer in der Klasse, dass sei uns doch wohl klar?
Was wir denn machen wollten, nach der Schule? Ich schwieg, weil mir nichts einfiel, aber Max plapperte wie ein Wasserfall los.
Zu meiner Überraschung plante er angeblich auch eine Karriere bei der Bundeswehr, durchaus. Vermutlich bei der Marine.
Stiller hob skeptisch die Brauen, fragte ruhig, „warum nicht bei den Feldjägern?“ und Max darauf, ungebremst, „oder auch das!“. Und schwafelte dann noch irgendetwas von Offizierslaufbahn und das man dazu aber Abitur bräuchte und ich war mir nicht sicher, ob das jetzt die große Inszenierung einer Vermischung gewesen war, oder ob er das wirklich Ernst meinte, mit der Offizierslaufbahn? Auch Herr Stiller schien sich nicht sicher zu sein, woran er war, immerhin verabschiedete er sich und noch draußen musste ich insgeheim den Kopf schütteln und habe Max fast gefragt, ob er wirklich so wahnsinnig sei, sich bei der Bundeswehr zu verpflichten.
Aber ich habe es dann gelassen.
Was sollte ich mich auch in fremde Lebensplanungen einmischen, soll doch jeder tun, was er will. Manchmal frage ich mich noch heute, für was ich mich halte.
Max hielt sich jedenfalls für einen Mod. Er lief nur in diesen Doc-Martens-Schuhen herum, trug Polo-Shirts von dieser Marke mit dem aufgestickten Eichenlaub, dazu natürlich Jeans und irgendeine Szene-Jacke, meist mit Karomuster.
Ich weiß nicht, ob Max auch zu irgendeiner Gruppe gehörte oder ob er dies nur aus modischen Gründen tat – und fragte auch nicht weiter, da ich Subkulturen sowieso für ziemlich lächerlich halte. Ich verstand nicht, weshalb man unbedingt zu so einer Gruppe gehören wollte, nur um sich dann irgendwelchen Kleidung- und Musikvorschriften zu unterwerfen.
Warum fühlt man sich elitär, als etwas besonderes, um sich dann wieder nur Menschen anzuschliessen und sich, zumindest kulturell, unterordnen?
Eigentlich doch paradox und deshalb entschieden abzulehnen? Max legte außerdem Wert auf die Tatsache, dass er aus Lübeck kommen würde. Er sei „Lübecker“, eigentlich sogar Travemünder und schien, das wurde betont, mit Hamburg eigentlich überhaupt nicht zu tun zu haben. Womit ich als geborener Hamburger so meine Probleme haben müsste, aber ich wußte, dass die Beziehung von Hamburg und Lübeck irgendwie problematisch, aber auch unausgesprochen und somit nicht richtig greifbar war. Deshalb war es eigentlich egal.
Er sei, das schien er auch denen zu erklären, die überhaupt nicht danach fragten, nur wegen der Schule nach Hamburg gezogen.
Auf irgendeinem Hinterhof in St.Pauli bezog er eine Ein-Zimmer-Wohnung, so eine Art länglichen Wohnkasten mit angeschlossenem Laubengang.
Ich war dann mal da, recht spartanisch und unspektakulär eingerichtet, man sass auf dem Boden auf Kissen. Matratze in der Ecke. Der Blick ging auf einen stinkigen, relativ leeren nassen und kalten Innenhof.
Erfreulicherweise lagen überall zahlreiche Bücher herum. Wie sich daraus herausstellte, befand sich Max gerade, genauso wie ich, auf literarische Reise durch Walter Kempowskis Deutscher Chronik. Wir waren beide verblüfft.
Während ich mit „Aus große Zeit“ wieder von vorne angefangen habe, steckte Max gerade in „Tadellöser und Wolff“ fest.
Kempowskis historische Buchreihe war bei uns zuhause immer ein sehr grosses Thema. Mein Vater stammt ursprünglich aus Berlin und hat geschichtsbedingt auch so einiges erlebt, worüber lieber nicht gesprochen wurde. Aber mit dem deutschen Thema wurde sich bei uns immer sehr intensiv beschäftigt.
Max kam über Kempowskis Verfilmungen zu seinen Büchern. Sowas hatte ich mir gedacht, aber immerhin. Er erzählte, dass sein Vater, der sonst in seinen Erzählungen überhaupt keine Rolle spielte, die Schnacks der Brüder Kempowski aus den Filmen treffend imitierte, „das tangiert mich äußerst peripher“ oder „Gutmannsdörfer“, wenn man etwas gut fand.
Die meisten unseres Jahrgangs verstanden bei solchen Sprüchen nichts. Und wußten natürlich auch nicht, um wenn es sich bei Walter Kempowski handelt.
In der Schule spielte seine Literatur ja keine Rolle, da haben „die Linken das sagen“, wie mein alter Herr zu sagen pflegte. Wobei man uns, zumindest auf der Fachoberschule, mit Literatur überhaupt nicht belästigte.
Im November, zum Mauerfall, tauchte Max dann mit einem Lodenmantel über der Harrington-Jacke auf. Er machte jetzt auf so etwas wie Swing-Jugend und wolle nur noch Jazz hören.
Er bezeichnete sich als Swing-Mod. So etwas gäbe es noch nicht, sei aber stark im kommen. Vom britischen Stil etwas weg, mehr zum französischen. Hauptsache, weg von der Deutschtümelei. Wegen der Entwicklungen im Osten, Max bezeichnete das ganz ernsthaft als „Konterrevolution“, entstanden so unterschwellig nationale Gefühle.
Aufgrund der deutschen Geschichte sind das natürlich unangenehme, längst verdrängte Gefühle. Kein Wunder, das soviel Zeitzeugen saufen mussten. Meine Theorie, muss aber natürlich nicht stimmen.
Die Sache mit dem Mauerfall hatte ich übrigens nur am Rande mitbekommen. Eher beiläufig hatte ich in der Tagesschau gesehen, dass sich die Leute in dichten Menschentrauben vor Gitterzäunen in Berlin drängten, um endlich mal aus ihrem sozialistischen Zoo heraus zu kommen.
Ich habe das gar nicht richtig realisiert, zwar rüttelten unsere Landsleute auch in Ungarn vor den Zäunen der bundesdeutschen Botschaft aber irgendwann konnte man auch sehen, dass da Leute auf der Berliner Mauer herumturnten, da hörte ich dann genauer hin. Unglaublich! So richtig damit gerechnet habe ich damit wohl nicht, trotz dieser ganzen Umwälzungen im Ostblock.
Und plötzlich war sie nach da, die Öffnung. Das war schon schön. Da würde ganz schön etwas auf uns zu kommen, auch das dachte man damals.
Jetzt wollten natürlich erst mal alle raus, das ist ja verständlich. Aber ich wollte da eben mal rein, in die DDR. Deshalb hatte ich ja dann auch die Idee mit der Kempowski-Safari.
Während alle aus der Ostzone herausströmten, plante ich begeistert, entgegengesetzt gen Rostock zu fahren und literarische Spurensuche zu betreiben.
Deshalb lud Max auch herzlich dazu ein, denn alleine durch dieses komische Land, wollte ich nicht. Wir fanden beide, dass dies ein ausgezeichneter Plan war – kamen dann aber irgendwie nicht auf die Idee, diese Reise vernünftig zu planen.
Ich war damals achtzehn, Max gerade siebzehn Jahre alt.
Was natürlich nur eine unzureichende Entschuldigung ist.