Kilchberg
Horgen, Zürich, Schweiz
Wer an wolkenarmen Tagen über die Schweiz fliegt, kann die Seen gut erkennen. Die Schweizer Seen können wie das Meer wirken, wenn man ganz nah dran ist und die Szenerie passendes Wetter hat.
Das letzte Mal, als ich über die Schweiz flog, schlief ich ein, nachdem ich den Zürcher See erkannt und daran gedacht habe, das es dort unten irgendwo war. Es passierte in Kilchberg und eigentlich gingen mich solche Familiengeschichten auch überhaupt nichts an. Doch diese eine Geschichte kümmerte mich schon etwas. Es drehte sich schliesslich um einen Lübecker und Lübecker halten doch zusammen. Sagt man. Aber das taten ja nicht einmal Brüder und ich dachte dabei an Thomas und Heinrich und die waren ja sogar beides, Lübecker und Brüder.
Plötzlich fand ich mich auf einer rechteckigen Wiese am Ufer des Zürcher Sees wieder. Es war wohl Nacht oder früher Morgen, sehr warm und sternenklar. Vielleicht nicht ganz so sternenklar wie am Strand von Travemünde um diese Zeit, unter den Sternen hier flimmerte nicht dieser besondere nordische Tau, aber zwischen den Tälern hier lag dafür ein ganz anderer magischer Glanz auf dem Firmament. Dieser Unterschied wurde mir jetzt klar, denn ich sass also mitten auf dieser Wiese und auf dem See nebenan kreisten hölzerne Sportboote, die ebenso elegant wie gelassen und fast geräuschlos die völlig ruhige Wasseroberfläche zerschnitten. Sportboote um diese Zeit? „Walking On Thin Ice“, dieser Song kam mir blitzartig in den Sinn. Der war von Yoko Ono, ich glaube aus dem Jahr 1981 und irgendwie mochte ich Yoko Ono. Trotz dieser Sache mit den Beatles.
Ich drehte mich absolut grundlos um und sah eine Dampflok einige Meter entfernt, die pfeifend und unter vollem Rauch vorbei zog. Dahinter ging es das Tal hinauf, durch Strassenzüge voll wohlhabender Bürgergrundstücke, bebaut mit bürgerlichen Wohnburgen.
Oben an der Strasse schien ein Herr im Mantel und mit einem Hut auf dem Kopf zu winken. Ein Herr mit einem Hund. Vielleicht schaukelte er auch nur. Ein Mann oder eher ein Schatten, der sich wieder seinem Tier zuwendet und verschwindet. Ich gehe instinktiv hinterher und frage mich, wo ich bin. Plötzlich stehe ich an einem Gartenzaun, vor so einem Haus und der bürgerliche Mann mit Hut und Hund steht direkt vor mir, mitten in der Gartenpforte zwischen privaten und öffentlichen Raum, hielt mühevoll die Hundeleine mit dem Hund. Der Mann fragte mich ungehalten, was ich denn, um Gottes Willen und in Teufels Namen, suche.
Ich wollte auch antworten, obwohl ich ja selbst nicht im geringsten wußte, was ich suchen könnte, unterliess aber jeglichen Versuch einer Erklärung. Ich konnte aber nicht mehr sprechen, bei jedem Versuch sonderte ich lediglich Seifenblasen aus Mund und Nase ab. Ehe ich also nur vor mich hin blubberte, liess ich es lieber, starrte den Mann aber mit einer unglaublichen, furchterregenden und hässlichen Grimasse an. Der Mann wendete sich angewiedert ab, was mir sehr peinlich war.
Er verschwand dann wortlos und ich nahm ein Taxi. Wobei; eigentlich nahm das Taxi mich, denn plötzlich war einfach da. Ich dachte an den Mann von eben, der kam mir irgendwie bekannt vor und auch die Taxifahrerin schien ich schon mal irgendwo gesehen zu haben. Nach kurzer Fahrt landete vor so einem Friedhofstor. Hier wollte ich eigentlich nicht hin, aber die Taxifahrerin meinte nur in ihrem schwyzerischer Akzent, dass sie warten würde, sie weiß ja, was die Deutschen hier oben suchen. Was mich dann wunderte war, dass ich völlig instinktiv meinen Weg zu einem der hinteren Grabfelder fand. Ich war völlig alleine auf diesem Friedhof, hatte aber nicht im geringsten Angst, falls man mir sowas unterstellt. Allerdings ging auch schon lange die Sonne auf und es war hell. Nicht, dass ich den Eindruck hatte, hier schon irgendwann einmal gewesen zu sein, schien mir dieser Friedhof bekannt. Woher kannte ich ihn nur? Vielleicht aus Film? Oder Fernsehen? Vor einem mächtigen Grabstein blieb ich stehen: Thomas Mann. Kein Stein, ein Block, der so massiv seinen Eindruck der Erde gab, wie zuvor der Dichter, dem damit gedacht wurde. Kein Zweifel: Hier oben ist er also begraben, der Lübecker Schriftsteller, der eigentlich ein Münchner, ein Amerikaner, auf jeden Fall Weltbürger und natürlich auch Schweizer, gewesen war und ja auch immer noch irgendwie ist.
Am Grab der Rundblick – und zwar so, wie man sich dass von außerhalb vorstellt – und das plötzliche Bewusstsein, an welchem Ort man hier gerade steht.
Der Blick über den See und der gebirgigen Umfassung, die schneebedeckten Bergkuppen. Das Gefühl von einem sicheren Ort. Der Hafen Exil wird einem an genau dieser Stelle ganz bewusst.
Und irgendwo dahinten sollte der Sohn begraben werden, der den Tod selbst wählte, weil er es auch nicht mehr ausgehalten hat, dieser Sohn zu sein. Immerhin hat sich Klaus dann lieber in Südfrankreich begraben lassen. Ob es noch schmerzt, im Jenseits? Darüber hätte man sich ja mal unterhalten können, mit dem Lübecker Freund.
Von weiten grollt ferner Donner heran. Plötzlich wird es kühl. Der Sommer hat angefangen, und schon neigt er sich dem Ende zu. Ich blicke in die ferne über den See und auf einmal ist mir, als ob ich aufwache. Ich kneife mehrmals die Augen zu und stelle fest, aus einem Flugzeugfenster zu schauen. Ich bin überhaupt nicht in Kirchberg gewesen.
Ich wollte nur, ich wäre.
Schöne Film.