Die runde Bude

Der Litfaßsäulen-Kiosk vor dem Holstentor

Seltsam, das häufig die unscheinbarsten Spuren im Stadtbild auf die interessantesten Geschichten hinweisen. Kurz vor dem Lübecker Holstentor rechts, direkt hinter der Puppenbrücke. Unmittelbar an den Wallanlagen befindet sich so ein unauffälliges Zeichen: ein kleiner, rechteckiger Versatz im Strassenpflaster, der eigentlich nicht der Rede Wert sein sollte.

Darunter verborgen sind die Reste eines Fundaments, auf dem einst eine Litfaßsäule stand.
Eine ganz besondere Litfaßsäule, die heute völlig vergessen ist.
Heute kennt kaum jemand noch diese runden Werbesäulen; obwohl sie ja vereinzelnd immer noch stehen; hier und da. „Litfaß“ übrigens, da ihr Erfinder, der Berliner Ernst Litfaß, seines Faches Drucker und Werbegrafiker, diese plastischen Werbeflächen um 1856 erstmals der Öffentlichkeit vorstellte.
Die Litfaßsäule vor dem Holstentor war aber gleichzeitig ein Kiosk, eine Bude, genau das machte sie so besonders. Vorne, zur Strasse hin, liess sich die plakattierte Litfaßsäule an der Seite nach oben öffnen, so dass eine Ladenklappe mit Auslage entstand. Linksseitig war noch eine unauffällige kleine Tür verborgen.
Seitdem hatte ich so etwas nie wieder gesehen, ich glaube ähnliche Buden gab es nicht mal in Berlin. Höchstens in Paris.
In Wien verfügen Litfaßsäulen ebenfalls über Türen – diese führend im Innern über Wendeltreppen in den Untergrund, in die Kanalisation. In Nürnberg gibt es Litfaßsäulen mit Zweitverwendung als öffentliche Toiletten; also eher das Pissoir als Werbefläche. In Hamburg gibt es einen Blumenladen in der Litfaßsäule, in Stuttgart Fahrkartenautomaten. Über einen Kiosk in der Litfaßsäule ist aber bisher nichts weiter bekannt.
Als Kind, es muss so Ende der Siebziger, Anfang der Achtziger Jahre gewesen sein, sass in dieser Bude, in diesem Litfaßsäulen-Kiosk ein alter, einbeiniger Mann.
Ich erinnere mich noch ganz vage, besonders an die dunklen Herbsttage, als es dämmerte und die Krähen in den Anlagen krähten und ich mit meinem Opa an dieser Bude vorbeikam.
Das war häufiger, jedenfalls einige Male so, wenn wir aus der Innenstadt kamen, denn meine Opa kannte den Mann, ein „Kriegskamerad“, wie es hiess.
Meistens machte der einbeinige alte Mann Feierabend, wenn wir vorbei kamen und war oft gerade dabei, seine Auslagen umständlich einzuräumen. Dazu bugsierte er seinen Rollstuhl aus der Tür nach draussen, stütze sich dann umständlich auf dem Rollstuhl auf, wackelte ganz furchterregend und pflückte dann die Zeitungen aus den Drahtständern, die um die Ladenklappe drapiert waren. Ich hatte Angst, dass der Mann auf seinem einen Bein umkippte. Mein Opa jedoch nicht, der unterhielt sich mit dem Einbeinigen, während dieser seine Zeitungen einräumte. Neben den „normalen“ Zeitungen, das erzählte mir mein Opa später mal, waren das auch die stramm rechten Gazetten, also „National-Zeitung“, „Deutsche-Stimme“ und andere Nazi-Bild-Blätter, aber anderseits auch ganz linke und kommunistische Zeitungen, „rote Fahne“. Die Medienvielfalt des Papierzeitalters war ein Zeichen der Demokratie. Meine Frage nach Comics oder „Kinderzeitschriften“ wurde nur knurrend und kopfschüttelnd quittiert. Der Mann war ziemlich graue, untersetzte und traurige Figur mit einem dichten Bart und einer Schiffermütze auf dem Kopf. Der Schlag seiner Bundfaltenhose knickte am Knie akkurat nach oben, im rechten Winkel mit der strengen Bügelfalte und war unter der Hosentasche sorgfältig mit einer Sicherheitsnadel befestigt. Das fand ich irgendwie befremdlich. Aber nicht so befremdlich wie seine Unfreundlichkeit. So ein Kinderschreck.
Meine Oma nannte den Mann tatsächlich „den Einbeinigen“, wenn sie manchmal meine Opa fragte, ob wir noch „vom Einbeinigen aufgehalten“ wurden. Mein Opa sagte jedoch stets „der einbeinige Mann“, oder „der Kriegsversehrte“, was ja wohl freundlicher als „der Einbeinige“ war. Mir fiel jedenfalls auf, dass dieser alte Mann immer nur sehr schlecht gelaunt, grantelig und ungehalten war. Von mir nahm er dabei keinerlei Notiz, höchstens weil ich im Weg herum stand, wenn er die Zeitungsbündel von der Auslage auf den Rollstuhlsitz oder vom Rollstuhlsitz in die Litfaßsäule hinein wuchtete.
Seinen Rollstuhl fand ich höchst interessant: Lederbezüge, die Reifen schwarz lackiert, mächtige Hebel mit hölzernen Griffen um den Rollstuhl anzutreiben. Ich hatte damals schon einen Sinn für stabile und besondere Sachen. Ich guckte mir das Fahrzeug also ganz genau an, stand dem armen Mann dann aber offensichtlich ebenso unabsichtlich wie lästig im Weg. Er knurrte mich dann bellend an, ich solle „da mal weg“! Ich fuhr zusammen – mich irritierte diese Unfreundlichkeit, ich war ja erst fünf oder sechs Jahre. Zu so einem Kleinen sind die Menschen ja sonst eigentlich immer sehr nett und freundlich, so war ich es bis dahin gewohnt.
Als der Alte schliesslich mit dem Aufräumen fertig war, nachdem er die Klappe der Litfaßsäule wieder eingeklappt hatte, das winzige Schloss der kleinen Tür abschloss und die Litfaßsäulen-Kiosk-Bude wieder eine Litfaßsäule war, machte sich der einbeinige Mann grußlos davon. Er schnaubte meinem Opa und mir noch irgend etwas unverständliches, aber freundlich gemeintes zu und verschwand. Wild ruderte er in seinem Rollstuhl Richtung Possehlstrasse davon, wie auf der Flucht.
Ich habe ihn dann noch ein paar Jahre gesehen, als ich dann schon älter war und mit meinen Kumpels alleine in die Stadt ging. Er sass tief in der Litfaßsäule und war gerade so zu erkennen, wenn man ganz genau hinguckte. Und wenn jemand sich eine Zeitung oder Zeitschrift nahm und nicht direkt auf die Ladenklappe legte, dann bellte der einbeinige Mann, er kann ja „nicht jeden Einzelpreis automatisch im Kopf wissen. Der war immer noch schlecht gelaunt und grantig, gerade deshalb ein echtes norddeutsches Original.
Und irgendwann war dann der einbeinige Mann und der Kiosk verschwunden.
Erst war der Mann verschwunden, dann die Kiosk-Litfaßsäule.
Und ich habe keine Ahnung, warum.
Es hiess, der Mann sei ständig überfallen worden und hätte dann keine Lust mehr gehabt. Und ein Nachfolger fand sich nicht. Es tauchten dann wohl noch die wildesten Gerüchte auf, zum Teil auch sehr unschöne Sachen, die hier aber nicht wiedergegeben werden sollen.
Völlig unauffällig stand die Litfaßsäule dann noch einige Jahre in der Gegend herum, bis sie dann diskret aus dem Stadtbild entfernt wurde. Eigentlich doch schade, man hätte doch sowas erhalten können!