„Wir gründen selbst einen Shantychor! Ihr seid alle mit dabei!“
Diese revolutionäre Forderung ist historisch überliefert und wurde mir von Zeitzeugen unter Eid bestätigt. So fanden sich bei der Entstehung des kuriosen Gründungsmythos des Möwenschiet-Chores alle anwesenden – auch unbeteiligte, zufällige- und Stammgäste – als ordentliche und verbürgte Gründungsmitglieder.
„Dienstverpflichtet“, wie Harry wichtig verkündete und sich darauf spöttisch-lachend schüttelte.
So manch anderen Kneipengästen anderorts, so sei entschuldigend angemerkt, erfahren nach so einer versoffenen Nacht wesentlich unangenehmere Nebenwirkungen, blaue Augen undsoweiter. Es gibt also weiss-Gott Schlimmeres als Chorgründer zu werden.

Der Grashoff-Abend wurde jedenfalls ein großer Erfolg, eine „runde Sache“, wie man an der Küste sagt, und der raue Schriftsteller soll von der Gründungsgeschichte des ihn begleitenden Chores derart gerührt gewesen sein, dass er auf der Stelle eine Patenschaft für die Chorknaben übernommen haben soll. Graßhoff soll „seinem Chor“ angeblich noch ein eigenes Lied, eine exklusive Hymne versprochen haben. Wurde nichts draus, das angebliche versprechen sollte oder konnte nicht eingelöst werden.
Kurze Zeit später wanderte der Dichter jedenfalls nach Kanada aus, kein Chor der Welt hätte ihn davon abbringen können.
Frustriert und beleidigt darüber, dass man den Schriftsteller in Deutschland hauptsächlich als Texter seiner Songs und Schlager schätze, die er unter anderem für Hans Albers, Lale Andersen und Freddy Quinn textete. Graßhoffs Balladen kannten hingegen höchstens Kenner, seine Jazz-Lyrik-Events mit Schlagzeugbegleitung waren eher für Fachleute.
Enttäuscht, dass vom Romanerstling „Der blaue Heinrich“ niemand Notiz nahm, zog er das selbsterwählte Exil in Kanada vor, fern vom bundesdeutschen Literaturbetrieb.
Grasshoff verbrachte die letzten 14 Jahre bis zu seinem Tod im eigenen Haus, auf einem weiten Grundstück, direkt am Ottawa-River.
Und der Nachlass des universellen Künstlers Fritz Graßhoff soll bis heute nicht erschlossen sein. Darunter haufenweise Notizen, unter Umstände ungesicherte Tagebücher von 1980.

Von Harry Hockauf habe ich aber nichts mehr gehört und gesehen.
Dabei fällt mir ein, dass von Harry immerhin den Möwenschiet-Chor bleibt, den gibt es heute noch. Nicht mehr als Kneipenveranstaltung, sondern als richtiger Chor. Es heißt, dass der Möwenschiet-Chor in derselben Liga mit dem Passat-Chor singt.
Habe ich mir jedenfalls sagen lassen.
Was dann noch von Harry bleibt ist eine Filmsequenz aus dem, unterschätzten Stimmungsfilm „Söpsch – Showdown eines Trinkers“ von Eckhard Blach und Stefan Schlippe und mit Günter Hutsch und Volkmar Bendig in den Hauptrollen. Harry gibt in diesem Film von 1993 mit zwei weiteren Existenzen einen Stehstammtrinker. Gedreht wurde am alten Kiosk an der Dankwartsbrücke, am „Malerwinkel“ vor der alten Kohlenhandlung. Gibt es heute nicht mehr, Kiosk und Kohlenhandlung sind weg, da stehen jetzt Wohnkomplexe für Besserverdienende.
Die „Ole Pinelle“ hat längst zu gemacht und ist vergessen.
Ole Pinelle, der poetische, trinkende Seemann aus dem Moritat von Fritz Grasshoff bleibt jedoch und wird nicht nur mich an Harry erinnern. Und weil es heißt, dass Grasshoff und Harry Freunde gewesen sind, könnte es doch sein, dass der Schriftsteller bei der Gestaltung seiner Figur seinen Freund als lebendiges Vorbild nahm.
Das kann so stehengelassen lassen.

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