ein Forscher auf der M.S.Mississippi
ist besser, als ein Schrumpfkopf im Museum.
Gleich am Anfang der Untertrave, fast schon dort, wo die Anlagen des Holstentors beginnen, lag bis vor einiger Zeit ein Museumsschiff. Man konnte aufgrund des Schiffsnamen annehmen, dass es sich dabei um einen alten Mississippi-Dampfer handeln musste, aber weit gefehlt: es gab da weder Schaufelrad noch Dampf. Jenes Schiff war dennoch anmutig, elegant und auf irgendeine Art etwas ganz besonderes. So lag sie dort stolz, fest vertaakelt auf alle Ewigkeiten, diese MS Mississippi, und sie war für jedermann geöffnet der vorbei kam und der mindestens bereit war, zehn D-Mark, was damals ein nicht gerade unerheblicher Preis gewesen ist, zu entrichten. Was man damit dann aber für diese zehn Deutsche Mark an Bord zu sehen bekam, ist sein Geld durchaus wert gewesen.
Wer das Glück hatte, die Planken des Schiffes noch zu Lebzeiten ihres Eigners zu betreten, fand sich plötzlich in einer Welt voller Klischees wieder, in einem Kuriositätenkabinett kolonialer Träume oder Alpträume. Man wähnte sich plötzlich in der Südsee, der Karibik und der ostafrikanischen Küste gleichzeitig. Schon das Deck, ganz dick in blau-weisser Farbe gepönt, schien nicht von norddeutscher Welt zu sein, sondern eindeutig exotischen Ursprungs; irgendwie „pazifisch“. In engen Wegen und Gängen ging es über die dicht vollgestellten Decks in den dunklen Schiffsbauch, der durch dichten Busch und Palmen wie das Herz einen düsteren Dschungels erschien, bis unter die Decke vollgestopft durch große und kleine Exponate. Wer sich durch diesen Sammelsurium seinen Weg hinunter erkämpft hatte, wurde im Zentrum des ganzen von King Kong in Empfang genommen: Ein ausgestopfter Menschenaffe, der in voller Größe ausgestreckt präpariert aufgestellt war und von dem ich, als ich ganz klein war und das allererste Mal in dieses Abenteuerkabinett hinuntergeführt wurde dachte, dass es vielleicht noch lebt. Ein kleines Informationsschildchen gab Auskunft über das Schicksal des armen Tieres und seinem Lebensraum um dann über die abenteuerlichen und verstrickten Hintergrundgeschichten zum Erwerb des Exponates zu fabulieren. Ausführliche Abenteuer wurden in schachtelhaften Sätzen angedeutet: „… nachdem wir uns aus der Gewalt der gefährlichen Krieger befreit haben, richtete der Häuptling dieses Stammes ein rauschendes Fest zu unseren Ehren – eine Entschuldigung, die wir nicht ausschlagen konnten.“ – in diesem Stil.
künstlerisch ausgeschmückt und gestaltet und wirkten in Kombination mit der Dschungelkulisse höchst zweifelhaft. Doch überdeckte die herausragende Vielfalt und Authentizität der „Übersee-Ausstellung“ jeglichen Schmuck und niemand wäre auch nur auf die Idee gekommen, sich zu beschweren.
Am interessantesten war es aber, wenn der Kapitän selbst seine Erlebnisse schilderte, dort oben, auf dem Zwischendeck. Er sass dann dort, mittig auf einem Pfauenthron oder zumindest so eine Art Korbsessel, und plauderte.
Meistens aber stand er vorne. Vor dem Aufgang über die Gangway war ein großer, mit Blumengewächsen und Tücher geschmückter Tisch aufgebaut. Darauf boten größere Tafeln und gerahmte Fotos Informationen über das, was es an Bord zu sehen gab. Wenn die Besucher weg blieben und es geschäftlich deshalb ganz lau bestellt war, kümmerte sich Kapitän Kasten persönlich um die Laufkundschaft, sprach also die Vorübergehenden an und probierte unter Einsatz eines gewählten Wortschatzes davon zu überzeugen, dass es ganz und gar wichtig und gerade jetzt umbedingt angebracht sei, die „großes Überseeausstellung“ („eine so bedeutende Schau haben Sie in Ihrem ganzen Leben noch nicht nie gesehen“) endlich mal selbst zu sehen. Womit Kasten davon ausging, dass der Angesprochene auch wirklich schon einmal etwas von der Ausstellung oder der MS Mississippi gehört hat. Nicht selten war dies auch tatsächlich der Fall, jedenfalls gelang es Kapitän Reinhold Kasten in jeder Sommersaison, Kasse und Schiff meist gut gefüllt zu halten.
Er begann sich in das Schiff zu verlieben, so wie ein Seemann sich eben in ein Schiff verlieben kann.
Das Schiff wurde vielmehr 1909 als ursprünglicher Dampfer gebaut und unter dem Namen Prinz Heinrich im Passagier- und Postbetrieb zwischen Emden und Borkum eingesetzt. Das ging immer so hin und her – während des ersten und auch während des zweiten Weltkrieges, bei letzteren jedoch kurze Unterbrechungen durch kriegsbedingten Einsatz: Die Prinz Heinrich versorgte als Postschiff die unzähligen Einheiten auf der östlichen Nordsee hinter Helgoland, die als Versorgungsschiffe wiederum hier „auf Abruf“ und Rede lagen und darauf warteten, die im Ärmelkanal, vor der Themsemündung bis hoch vor Schottland operierenden Schnell- und U-Booteinheiten zu versorgen. Neben mehreren kleineren, durchaus gefährlichen bis unbedeutenden Luftangriffe durch britische Spitfires erlebte das Schiff aber keinerlei aufregende Kriegserlebnisse. Schlank und wendig kurvte das Schiff zwischen mittleren bis größeren Kriegsschiffen, Schnell- und U-Booten, ging längsseits, wurde ve
rtäut und wartete, bis die Postsäcke von dem einen Deck aufs andere verbracht wurden.
Und so mancher Seemann verguckte sich in das schlanken, schnittige Schiff, blickte schmachten hinter der Gischt her, nachdem das Postschiff ablegte, beidrehte und hinter der sonnengeblendeten Kimm der See verschwand. Vielleicht aus Heimweh, vielleicht aber auch nur aus Langeweile. Doch nach dem Krieg ging es wieder weiter, endlos zwischen Emden und Borkum und den anderen Inseln. Eintönig, aber zeitlich genau und seemännisch anspruchsvoll. Zumindest während der folgenden Jahre lang.
Bis 1969. Mittlerweile wurde die Prinz Heinrich aus irgendwelchen Gründen auf Diesel umgerüstet und kurz vor Außendienststellung, erbarmte sich ein abgetakelter Seemann diesem Schiffsschicksal, griff zu und kaufte den Kahn.
Der Käufer des Kahns war ein abgetakelter Seemann, der viel Geld gespart hatte und gerade dabei war, eine Schnapsidee zu verwirklichen. Reinhold Kasten, genau so hiess nämlich der Seemann, kannte die Prinz Heinrich aus seiner Zeit bei der Kriegsmarine. Mehrfach erlebte er das Schiff in der Nordsee und war von der eleganten Seetüchtigkeit des schmalen Schiffskörpers tief beeindruckt.
Er begann sich in das Schiff zu verlieben, so wie ein Seemann sich eben in ein Schiff verlieben kann. Deshalb hielt Kasten diese zweite Begegnung auch für sehr schicksalshaft und war davon überzeugt, gerade deshalb dieses Schiff kaufen zu müssen und kaufte eben die Prinz Heinrich für eine angemessene Summe.
Kasten begann seine Seefahrt Anfang der dreissiger Jahre, da war er noch keine sechszehn Jahren alt – so hat er seine Erzählungen später ein manches Mal begonnen. Und schon auf der ersten Fahrt ging es rüber nach Chile und das erste Mal um das berüchtigte Kap Horn. Er war überwiegend seekrank auf der ersten Fahrt aber war es nie – niemals in seinem Leben noch einmal wieder, nie wieder! Höchstens ein einziges Mal so ähnlich, Ende der Vierziger Jahre in New York City. Wie berauscht saß er dort irgendwo in einer Bar, stierte einer Tänzerin hinterher bevor dann beide nach kurzer Zeit später feststellen mussten, Deutsche zu sein. Sie kam gebürtig aus Hannover, ursprünglich… Und anders als viele anderen Seemänner, die eigentlich über die Kürze ihrer Beziehungen eher froh sind, suchte sich der angehende Kapitän etwas Beständigeres und diese Tänzerin kurzerhand ehelichte. Seine Frau entpuppte sich zum Wundertier, die war „seefest wie ein alter Seebär“ und „hat als Orkane, Taifune, Hurrikane öfters mitgemacht“, so Kapitän Kasten irgendwann einmal zu Pressevertretern. Und Mady, seine Frau, unterstützte ihn bei seiner immer manischeren Sammelwut. Tausende Souveränes sammelte der Kapitän und führte manches geschickte aus den Ausfuhr- und Zollkontrollen vorbei.
Für viele ganz und weniger jüngere Lübecker gehörte der Besuch an Bord der Weltausstellung besonders in den Ferien zum obligatorischer Standard.
Kasten war mehr als ein Seemann in Rente, er kam zu einschlägigem Ruhm als Abenteurer und Weltumsegler,legte innerhalb von 56 Jahren zur See 42 Weltreisen und angeblich über eine Million Seemeilen zurück. Wer´s nicht glaubt, dem es nicht zu helfen – wen juckt es schon, wenn man unzählige Male Kap Horn umrundete, x-Mal die Magellanstrasse durchquerte, ebenso oft das Bermuda-Dreieck überstand und dabei vier Schiffsuntergänge überlebt hat. Doch Kasten begnügt sich nicht mit dem Sammeln von Seemeilen, denn die überstanden ja nur die Tinte auf dem Papier. Kasten wollte etwas handfestes sammeln, irgendwelche Dinge, über die man dann im Alter irgendwann auf sein bewegtes Seemannsleben zurückblicken konnte. Denn das Leben auf See war zwar, insbesondere für die an Land zurückgebliebenen, „bewegt“, verlockte andererseits jedoch zum Vergessen, alleine aufgrund einer überwiegenden Eintönigkeit der langen, gleichförmigen Tage auf hoher See. Und das war dann während des Erinnern sehr unvorteilhaft, dieses Vergessen. Und so kam Kasten dann im Laufe der Zeit zu allerlei Kram und Trödel. Insgesamt so um die 8000 Exponate, darunter ausgestopfte und präparierte Spinnen, Skorpione, Schlangen, Schmetterlinge und sogar einen lebensgrossen Orang-Utan. Außerdem Kuriositäten wie echte Schrumpfköpfe, Vasen aus China, den silbernen Thron des Königs von Tonga und sogar einen echten Tropenhelm von Albert Schweitzer, einem Spazierstock von Winston Churchill und unzählige Dokumente, Briefe und gerahmte Fotos, um vermeintliches Seemannsgarn im Wahrheitsgehalt zu legitimieren.