Im ersten Teil von „eingetaucht!“ geht es um die Begegnung mit Max Foerde im Hamburg des Jahres 1989 – die deutsch-deutsche Wende und der Fall der Mauer steht kurz bevor. An einer Schule treffen sich zwei Gleichgesinnte und erleben historische Wochen und Monate – kurz bevor Max eintauchte.

Max Foerde, der eigentlich einen ganz anderen Namen hatte, lernte ich unmittelbar um die Wendezeit kennen. Max Foerde war sein Deckname, der in diesen Aufzeichnungen auch zum Schutz seiner Person beibehalten wird.

Dieser Deckname ist längst verbrannt und passé und sollte ein Zeitzeuge die nun folgenden Zeilen lesen und sich erinnern, ist es durchaus auch so beabsichtigt.
Als ich Max kennenlernte, das war mittlerweile schon vor über dreißig Jahre, begann das ganze Land in einen Rausch zu geraten.

Es war um 1989, während diesen komischen Wochen, kurz bevor die Berliner Mauer fiel.
Damals war mir überhaupt nicht bewusst, wie historisch jene Tage waren und ich glaube, auch Max war sich darüber nicht im Klaren, allerdings bin ich mir bei dieser Frage heute nicht mehr ganz sicher.

Jedenfalls hatten wir beide dann nichts besseres zu tun, als nach Rostock zu fahren und uns auf eine Kempowski–Safari zu begeben, gleich nachdem ein solcher Trip möglich war.
Wir waren beide Schüler an der Hamburger Fachoberschule für Grafik und Gestaltung, sozusagen der Vorschule der Hamburger Kunstschule am Lerchenfeld. Ich persönlich bin dort, dass gebe ich gerne zu, eher aus reiner Verlegenheit gelandet. Ich hatte eigentlich gar keine Ahnung, was ich dort lernen sollte, fand aber „Grafik und Gestaltung“ bereits begrifflich sehr interessant. Schliesslich musste ich auf irgendeinem Weg an das Abitur kommen, wegen der Familienehre war das absolut wichtig und völlig klar. Wir wusste noch nicht, was wir werden wollten, bildeten uns aber ein, Künstler zu sein, oder irgendetwas in dieser Richtung. Auf jeden Fall waren wir zu schlecht für die regulären Gymnasien und wußten das auch. Kurios erscheint es rückblickend, dass solche Leute wie wir im Klassenraum immer nebeneinander platziert werden.
Die historischen Wendemonate waren oberflächlich betrachtet alles andere als aufregend. Alles fing eigentlich eher unspektakulär an.

Dann in den Sommerferien, bevor es in der neuen Schule losgehen sollte, wurden die Nachrichten im Fernsehen immer interessanter. Im geteilten Land ging bisher alles seinen typisch deutschen bürokratischen Gang, wie ich es schon seitdem ich denken konnte, gewohnt war.

Dort drüben schien das sozialistische Deutschland langsam wieder bankrott zu gehen, doch ich war mir sicher, dass es bald für Ostberlin irgendwelche neuen Milliardenkredite gab. Doch dann tat sich etwas, im anderen Deutschland. Nach den ersten, zaghaften Demonstrationen und Unmutsbekundungen wurden die Menschen dort immer mutiger, die Demos immer größer.
Ausgegangen ist jener Mut von Signalen aus Moskau, die später als „Perestroika“ und „Glasnost“ bezeichnet wurden und scheinbar eine ehrliche Abkehr vom Stalinismus bedeuteten.



Eine Annäherung, die von beiden Seiten ausging: Plötzlich konnte man in der „BILD“ lesen, dass man dort künftig auf die Anführungsstriche vor und nach der Bezeichnung „DDR“ verzichten wolle. Ein kleiner, typographischer Wink, um diesen Staat nicht anzuerkennen. Mein Vater, der damit selbst seine Erfahrungen gemacht hat, sprach stets von einem Unrechtsstaat – weder deutsch, nicht demokratisch und keine Republik“. Doch das schien jetzt vorbei, Mitleid verdrängte jegliche politischen Vorbehalte. Über Ungarn kamen im Sommer 1989 immer mehr „Ostdeutsche“ ins Land, auch nach Hamburg.
Wir mussten zu dieser Zeit, parallel zum ersten Schuljahr, ein Praktikum in einem fachbezogenen Betrieb absolvieren. Ich fand eine Stelle in einer Werbeagentur am Gänsemarkt. „Knollens Team“, nannte sich der Laden. Der Chef dort, ein geselliger Typ mit Vollbart, eigentlich ein linker Redakteur einer Hamburger Szenezeitung, gabelte dann irgendwann am Hauptbahnhof Übersiedler aus der DDR auf, die wohl aus Ungarn „rübergebracht“ hatten, sogar zu den berühmten Botschaftsflüchtlingen gehören sollten.

Da wehte dann richtig der Hauch der Geschichte. Wir hatten keine „Verwandten in der Ostzone“, wie zuhause stets betont wurde, deshalb waren die Zwei für mich ganz interessant, ich hatte bisher keine „Ossis“, wie wenig später gesagt wurde, gesehen. Die beiden sächsischen Maurer, die ihre Familien zurückgelassen haben und jetzt Arbeit suchten, sassen da also in der modernen, komplett kapitalistisch ausgerichteten Werbeagentur der Knollens, wirkten ganz offensichtlich kolossal überwältigt, sichtlich ratlos und masslos überfordert. Immerhin liess der Chef sie nachts in der Agentur pennen, zwischen den Zeichentischen auf herbeigeschafften Schlafsäcken, da mussten sich sich keine Sorgen um die Übernachtung machen. Als ich dann so über den Lichttisch beugte und auf den aufgerollten Schlafsack drunter trat, wurde mir eigentlich erst der Ernst dieser historischen Lage überhaupt richtig bewußt.

Daran erinnere ich mich heute noch ganz genau.
Morgens, wenn gegen zehn Uhr mit der Arbeit angefangen wurde, lagen die Leute dann meist noch in ihren Schlafsäcken, völlig verpennt und träge. Es wurde wohl auch ziemlich gesoffen. War aber alles egal. Bis dann einige Tage nach dem Mauerfall die Frauen, oder Freundinnen, im Treppenhaus standen. Schreierei und Weinkrämpfe, ganz großes Drama, ganz viel echte Geschichte. Aber bewusst war einem das damals, zu dieser Zeit, natürlich nicht. Man war, wie immer in der Gegenwart, eben mit seinem Kram beschäftigt. Also überwiegend mit der Schule.
Die Klasse, in die es nach den Sommerferien Anfang August ging, bestand aus mehreren Gruppen: aus den kunstbegabten Schüler mit Talent, den Zwangsläufigen mit Fleiß; dazwischen mehrere gelangweilte Punks, einige mit Bezug zur Hamburger Hafenstrasse, viele mit unerkennbarer Motivation, zwei oder drei, die kaum wahrgenommen wurden und natürlich der obligatorische Klassenclown. Ich zählte mich selbst, als Beobachter, natürlich nicht dazu. Es handelte sich also um eine zähflüssige, eher träge Truppe aus Schüler, die sich dann am ersten Tag in dem großen Auditorium am Steinhauer Damm einfanden. In der Fachrichtung „Grafik und Gestaltung“ würden uns, man ahnt es bereits, grafische und gestalterische Grundlagen vermittelt werden, die am Ende der Schulzeit für das Fachabitur qualifizieren sollten. Das anschliessende Studium an der Kunsthochschule war, zumindest für mich, jedoch eine ferne Utopie. Von den durchschnittlich 1400 erfolgreichen Absolventen der Fachoberschule würden nicht mehr als 170 Bewerber zum Lerchenfeld wechseln. Undenkbar also.
Max gehörte zur kunstbegabten Gruppe. Immerhin.

Er fotografierte und war in der Lage, seine Abzüge im Labor zu entwickeln. Das war eine Fähigkeit, die einen gewissen Vorsprung versprach. Wozu er zu dieser Begabung noch unbedingt ein Fachabitur wollte, war mir damals nicht klar.
Ich meine, wenn man fotografieren will, soll man es doch einfach tun.

(…)


EINGETAUCHT!-Textproben

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Im ersten Teil von „eingetaucht!“ geht es um die Begegnung mit Max Foerde im Hamburg des Jahres 1989 – die …

Das Outing

Max kannte ich aus meiner Schulzeit in Hamburg. Ein Freund, von heute auf morgen verschwand und schnell vergessen war. Bis …

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