Im Gegensatz zu G. war der wenig jüngere O. kein bedeutender Dichter, hatte eher kein moralisches Gewissen, war alles andere als eine gesellschaftliche Instanz, sondern besaß eher einen geringen Ruf als Unbelehrbarer und war ein notorischer Ewiggestriger, der über eine Beachtung als lokaler Leserbriefschreiber mit extremer Tendenz zu Geschichtsrevisionismus nicht hinauskam. Er verkaufte in seinem Laden, der sich in einer benachbarten Rippenstrassen befand, gebrauchte Bücher. Neben dem Buchantiquariat spezialisierte sich O. daneben auch auf Volksempfänger, wie es schien, jene Geräte also, die er bereits als Kind auseinandernehmen und auch wieder zusammensetzen konnte. Einen Gewinn erzielte er kaum, es war ein Zuschussgeschäft im wahrsten Sinne des Wortes. Aber auf einen finanziellen Gewinn kam es ihm auch überhaupt nicht an. Diese alten Radiogeräte, dort in der Fensterauslage, waren Symbol seiner Mission und Köder seiner Taten. Meist waren es ahnungslose Jugendliche, in einige Fällen reichlich infizierte Neonazis, die da in den Laden kamen und über die Volksempfänger mit O. ins Gespräch kamen. Ärgerlich für alle Unbeteiligten, die ganz naiv nach den Preisen dieser Geräte fragten und somit ungewollt in entsprechende Gespräche gezogen wurden. Warum man denn diese Geräte, „seinerzeit“ auch Goebbels-Schnauzen genannt, gefallen würden? Interessiere man sich vielleicht für jene Ursprungszeit, über die man ja eigentlich gar nicht frei sprechen darf? Ob man dies überhaupt wisse und warum dass wohl so sei? Man wisse nicht, wovon er sprechen würde? Die eigene Geschichte, darum gehe es; dass die Vergangenheit des Volkes, jene, die so schuldbeladen sei, doch heute nur noch negativ dargestellt werden würde, ob das nicht komisch sei. Und dass es doch eigentlich fast schon verboten ist, dieses Bild mal kritisch zu hinterfragen, ob es einem nicht Selbst aufgefallen sei. Und die Juden, die wären ja ein ganz bestimmtes Kapitel. Denn wäre es nicht komisch, und dabei kam er seinen Gesprächspartner unangenehm nah und kniff sein linkes Auge zu, dass es immer noch Juden geben würde, die Wiedergutmachungsgelder kassieren können? Obwohl „wir“ damals doch angeblich alle vergast hätten, er zog mit seinem Zeigefinger rhythmisch das untere Lid des zugekniffenen Auges, „merken sie was?“
Und erzählte, wohlgemerkt ungefragt, von seiner Kindheit in Danzig, dass ja heute Gdansk heißt und in Polen liegt und er erzählte es meist so, als sei dieses Danzig komplett gestohlen, demontiert und in Polen an anderer Stelle wieder aufgebaut wurde. O. erzählte von seiner Karriere als Hitlerjunge, die überhaupt nicht so schlimm sei, wie heute immer wieder erzählt wird. Er tastete dabei mit seinen Sinnen seine Gesprächspartner ab und prüfte sorgfältig, wie weit er gehen könnte. Bei den geringsten Anzeichen von skeptischen Distanzen kam er umgehend wieder auf seine Volksempfänger zu sprechen, die jedoch, wie dann schließlich leise und ganz nebenbei erwähnt wurde, unverkäuflich waren. Es ging ihm ja überhaupt nicht um das Beraten und Verkaufen, vielmehr um das bekehren und doktrinieren. Ein Nazi wollte O. aber nicht sein, derartige Bezeichnungen verbat er sich. Er verbreitete seine Ansichten überzeugt als berechtigte Stimme eines heimatlosen Flüchtlingskindes. Eines Opfers, welches sich nicht Opfer nennen darf. Vielmehr sah er sich in der Rolle eines Freiheitskämpfers für ein vereintes Deutschland. Und als Deutschland noch geteilt war, als es also bis unmittelbar Ende der Achtziger Jahre die „DDR“ noch gab und Reisen in den Ostblock, beispielsweise nach Gdansk in Polen, undenkbar waren, machte eine solcher Rolle unter Umständen durchaus Sinn.
Er beklagte sogar öffentlich darüber, seine Vaterstadt Danzig nicht betreten zu können. Als dann aber 1989 die Mauer fiel und der Ostblock zerfiel und, nun wird es paradox, eine Reise zu den Orten seiner Kindheit also machbar wurde, blieb O. zu Hause. Er weigerte sich, diese Vaterstadt jemals zu betreten, unter dessen Erde vermutlich irgendwo sein Vater liegt und auf der sich die Sieger auf Generationen eingerichtet haben. Und auch sonst schien die Tatsache der deutschen Wiedervereinigung für O. kein besonderer Grund für Freude zu sein.
Und so kam die Nachwendezeit, die beiden deutschen Republiken wuchsen zusammen, so unterschiedlich sie auch schienen und die Blöcke des Kalten Kriegs schmolzen schneller hinweg, als man es je erwartete. G. hielt nichts von einem wieder vereinigten Deutschland. Der Wunsch dieser bürgerlichen Menschen auf der Straße war für ihn „nicht wünschenswert“, da die Nachbarn sich bedroht fühlen könnten.
G. reiste nach Danzig, das jetzt Gdansk hieß, sobald es ihm möglich war, schon aus reiner Neugierde und als bedeutender Literat selbstverständlich auch im Zeichen deutsch-polnischer Aussöhnung. Besuchte die Stätten der Kindheit und Jugend, ließ sich herumführen. Ging durch die Ul.Wajdeloty, wobei Ul. Polnisch ist und „Straße“ heißt und ging auch am Eckhaus der Nummer 13 vorbei, dem damaligen Vereinslokal der Nazis. Hier haben sie sich vor dem Zweiten Weltkrieg besoffen, um anschließend polnische Studenten durch die Straßen zu jagen, er hatte es damals selbst gesehen. Nun dachte er aber nur darüber nach und schwieg. Und G. besuchte sein Elternhaus, neben dessen Eingang wenig später eine Tafel montiert wird, die an den Dichter und berühmten Sohn der Stadt erinnern soll, blickte in das miefige Treppenhaus, das jetzt überhaupt nicht mehr miefte, und erinnerte sich an die dunklen Geschichten, die hier zwischen den Etagen geflüstert und später, in den Wohnküchen, erzählt wurden: In Stutthof, vor den Toren der Stadt, machen sie jetzt Seife; man möchte sich gar nicht mehr waschen. Es wurde als Witz aufgefasst, und manche lachten sogar. Doch war Gdansk nicht mehr Danzig und statt an G. erinnerte man sich hier heute höchstens an diesen kleinen Blechtrommler aus seinem berühmten Roman und G. gefiel es. Er ließ sich gerne mit seinen Kreaturen verwechseln, obwohl er stets mahnte, um Himmels willen nicht alles autobiografisch zu interpretieren. Und so suchten sie die Maiwiese, jenes weite Feld am Steffenspark, das die Nazis für feierliche Aufmärsche nutzten und ihre todernst gemeinten Reden vom Ausmerzen und Auslöschen hielten und sie fragten nicht, wo G. wohl damals als Hitlerjunge gestanden hatte, sondern erkundigen sich beim Autor naiv und fast amüsiert, wo denn wohl die kleine Holztribüne zu verorten wäre, unter der sein kleiner Blechtrommler den Nazis auf eigener Art den Marsch trommelte. Das wollten sie wissen, denn viele mochten diese Stelle in seinem Buch, da Lächerlichkeit die beste Methode sei, seine Gegner zu entwaffnen.
Gegner, zu denen auch O. gehörte. Doch der gab dem kleinen Blechtrommler dazu leider bisher keine Gelegenheit, O. hatte das berühmte Buch nie gelesen und bedauerte diesen Umstand auch keinesfalls. O. bevorzugte auch eine andere Literatur. Jene nämlich, die sich mit der Schuld, besser: Unschuldsfrage der Deutschen beschäftigte, revisionistische Schriften in jeglicher Hinsicht. Publiziert und verbreitet von überzeugten Alt- und Neo-Nazis, die mit wahnwitzigen Theorien zu Ursachen und Verlauf des Krieges und absurden Verschwörungstheorien die Geschichte verfälschen. Verbrechen der Nazis und Verstrickungen der Deutschen verklären dabei die Täter, damals wie heute, in das glatte Gegenteil. Opfer werden zu Feinden des Volkes, tatsächliche Täter zu vermeintlichen Helden fabuliert. Ein braunes Schlaraffenland, ganz nach O.s Geschmack. Denn nur so wandelte sich der Vater, bei dessen Erinnerung wieder ein stechender Schmerz unter der Beule am Kopf einsetzte, von dem schuldigen Nazi-Funktionär zu einer Art Kreuzritter, der lediglich in Danzig blieb, um sich dem tapferen Kampf undsoweiterundsofort. Auch für den Massenmord an den europäischen Juden haben die Täter ihre eigenen Thesen. Mit pseudowissenschaftlichen Erkenntnissen wird jegliche industrielle Menschenvernichtung geleugnet und die Leichenberge werden zu Propagandafälschungen halluziniert.