Zwei Mann aus Danzig
Es war in Danzig, als sich die beiden Herren vielleicht nur ein einziges Mal trafen. Sie waren damals noch sehr jung und beide wurden Günter genannt.
Günter O., damals noch schmächtig und klein, sah an dem vielleicht zwei, vielleicht aber auch drei Jahre älteren, größeren und kräftigeren Günter G. bewundernd auf, als dieser mit einem Eisen geschickt Steine aus dem Pflaster der Straße herauszubrechen versuchte. Der handwerklich nicht ungeschickte G., er wird in einigen Jahren nicht nur Steine brechen, sondern diese sogar formen dürfen, musste für Nachschub sorgen. Die anderen Jungen brauchten die Steine, um diese dann mehr oder weniger gezielt auf die Fenster eines grauen Wohnhauses zu werfen.
Vielleicht aber sah G., der Ältere, auch nur belanglos auf O., dem jüngeren, hinunter. Wären beide ins Gespräch gekommen, könnte G. vielleicht den zögernden O. aufgefordert haben, es auch einmal zu probieren und hätte ihm vielleicht einen dieser Pflastersteine in die Hand gedrückt. Vielleicht hätte ihm der Ältere dann sogar erklärt, dass es sich hier schließlich nicht um einen dummen Streich handeln würde, sondern es ja eine Pflicht sei, in diesem „Existenzkampf“ ihres, nämlich des deutschen Volkes, Steine auf Judenhäuser zu schmeißen.
Vielleicht haben beide aber auch nur abseits des Mobs nebeneinandergestanden und diesem Treiben schweigend zugesehen.
Man weiß es nicht.
Der Krieg gegen Polen, der später als Zweiter Weltkrieg in die Geschichte eingehen sollte, hatte gerade erst begonnen und beide Jungen fürchteten eigentlich nur, dass dieser Krieg schneller zu Ende gehen könnte, als sie „groß“ werden würden, denn natürlich wollten sie an diesem Krieg teilnehmen. Sie konnten es überhaupt nicht erwarten, auf die Schlachtbank des Krieges geworfen zu werden. Vielleicht wollten das nicht alle Jungens, damals, aber mindestens fast alle hatten keinen anderen Wunsch, als schnell Soldat werden zu dürfen. Ein Paradoxon jener Zeit, an dem die Propaganda schuld war und natürlich auch die begeisterten Väter, Brüder, Onkel und Nachbarn, die sich als Soldaten oder „Heimwehrmänner“ in den grauen und braunen Uniformen in dieser damaligen, dem Wahnsinn verfallener Welt bewegten. In Danzig gab es aber auch noch andere Männer, das darf nicht verschwiegen werden, jene nämlich, die auf Seite der Polen standen oder einfach keinen Grund sahen, für dieses „Großdeutsche Reich“ zu kämpfen und zu sterben. Die meisten dieser Jungen hatten auch solche Männer in den Familien und viele verstanden nicht, weshalb sich dieser tödliche Riss durch ihre Familien zog, sie meinten nur zur verstehen, dass „der Jude“ für diesen Streit verantwortlich sei. So bildeten sich in diesen merkwürdigen Zeiten also keine Banden zwischen verfeindeten Fußball-Anhängern oder Oberschülern verschiedener Schulen, sondern es kämpften auf den Straßen Danzigs und anderorts Deutsche gegen Polen und Juden. Im Großen und im Kleinen. Die beiden Jungen standen vermutlich jedoch etwas abseits diesem Pulk deutscher Jugend und beteiligten sich am abzeichnenden Menschheitsverbrechen noch als passive Zeugen. Und vermutlich erzählte der etwas größere G. dem kleineren O. auch noch nichts von seinen Plänen, sich freiwillig zu den U-Booten zu melden, wie er es einige Jahre später tatsächlich beabsichtigt.
Auf jeden Fall, so wurde erzählt, waren diese zwei Jungen durch eine seltsame Gemeinsamkeit an diesem Ort und mit diesem Augenblick verbunden.
Während des Tumultes nämlich prallte einer der zuvor geworfenen Steine von einem Fenstersims des hohen Gebäudegiebels ab, flog im hohen Bogen zurück, direkt über die Köpfe der anderen hinweg und schleuderte dann in genau auf Günther G. zu. Der Stein streifte noch schmerzhaft die Stirn von O., bevor er dann in voller Wucht auf den Schädel von G. prallte. Beide Jungens taumelten, O. fing sogar an versteckt zu weinen, das durfte er aber, denn als Pimpf wurde heulen in besonderen Fällen noch geduldet. Beide erschreckten sich sehr. Vielleicht blickten sie sich sogar verwundert an.
Irgendein anderer Junge, der diesen trickreichen Stein beobachtete, meinte schließlich, zu G. und O. gewandt, dass die beiden eben besser selbst Steine geworfen hätten, das hätte man dann nun davon. Den Stein hätte sicher einer der Judenbengel zurückgeworfen, die sich da in dem Haus angeblich noch unter dem Dach versteckt hielten. Und O. hätte sich dabei vielleicht ziemlich gewundert, denn der Einzige, den er aus diesem Haus dort drüben kannte, war Hans-Jürgen, den O. aus der Schule kannte. Hatte der vielleicht Steine zurück geworden? Mit dem hatte er sich immer ganz gut verstanden, wieso war denn der jetzt ein Jude?
Jedenfalls sorgte dieser Zwischenfall für eine Gemeinsamkeit, beide sollten sich durch eine bleibende Beule, einer an der Stirn, der andere am Hinterkopf, an diese Veranstaltung erinnern. Auch noch lange nach dieser Zeit und jenem Krieg, an dem sich die Beiden, zu ihrem großen Bedauern übrigens, nicht mehr richtig beteiligen konnten, blieb die Beule als Erinnerung an diesem Tag.
Der kleine O. steckte zum Kriegsende gerade noch in der Uniform eines Hitlerjungen, aus die er dann sehr hektisch heraus gerissen wurde, als sich seine Familie auf die Flucht nach Norddeutschland machte. O. wusste zu dieser Stunde, dass die Kindheit nun vorbei war. Und auch daran, so erklärte die Mutter, waren nicht die kriegsbegeisterten Brüder schuld, die jetzt an irgendeiner Front vermisst wurden. Auch nicht der Vater, der tapfer, wie sie sagte, als Parteimitglied bei seinen Posten in Danzig zurückblieb. Schuld an allem, so erklärte sie es ihrem Sohn, war „der“ Jude. Überhaupt: Tapferkeit.
O. konnte es nicht mehr hören. Aber sobald er versuchte, sich über diese ganzen Vorgänge um ihn herum konzentrierte Gedanken zu machen, hinderten dumpfe Kopfschmerzen am Denken. Also zerbrach er sich nicht weiter den Kopf.
Und G.? G. tauchte nach dem Krieg in einem amerikanischen Kriegsgefangenenlager auf. Und schuf sich dann sein künstlerisches Ebenbild, erlernte die Bildhauerei. Im Gegensatz zu O. konnte sich G. sehr wohl Gedanken über die Vergangenheit und den düsteren Vorgängen der vergangenen Jahre machen. Und er machte seinen Frieden mit seinen Feindbildern von einst. Im Gegensatz zu O. zog G. seine ganz persönlichen Konsequenzen.
Zog er aber auch die richtigen Schlüsse?
Man weiß es nicht.
Jahrzehnte später hätten beide dann erneut aufeinandertreffen können. Wäre dem dann so gewesen, wäre diese Begegnung ein ideales Beispiel für die Redensart, dass man sich im Leben immer zwei Mal trifft. Der jüngere O. und der ältere G., beide waren jetzt alte Männer, verbrachten ihre letzten Lebensjahre in Lübeck, nur wenige Hundert Meter voneinander entfernt. Viel Zeit blieb den beiden also nicht mehr. Wofür auch?
Vielleicht trafen sie sich in der Königsstrasse, vielleicht aber auch im geschäftigen Gewühl der Breiten Straße oder auf dem Kirchhof unter der Marienkirche. Möglicherweise würden sie sogar einen sprichwörtlichen Augenblick Blickkontakt haben, wie vielleicht damals, im Pogromhaften Gewühl in Danzig. Eventuell würde O. den älteren G. sogar kennen, denn schnell gab sich O. nicht mehr nur mit dem Behauen von Steinen zufrieden, er malte auch bald und betrieb bereits lange die Schriftstellerei, das Wort drängte förmlich aus ihm heraus. Er verstand es zu experimentieren, zu laborieren und seine Kunst zu organisieren. Ein bekannter, sogar ausgesprochen berühmter Schriftsteller ist aus ihm geworden und O. kannte ihn natürlich, erkannte in ihm aber bestimmt nicht den Jungen von damals, aus Danzig. Wahrscheinlich hätte O. ihm, schon aufgrund seiner Prominenz, nachgeblickt. Und dann ganz bestimmt nicht mit einem freundlichen Blick, den G. gehörte zu den linken Schriftstellern der Republik, die seiner Meinung nach allesamt „Vaterlandsverräter“ waren. Dass G. wie er selbst gebürtiger Danziger war, wusste er möglicherweise, erinnerte sich aber sicher nicht daran. Es wäre auch nicht erheblich gewesen, denn zwischen ihm und G., so dachte er zumindest, lagen Welten. Aber er dachte voller Neid daran, dass G., im Gegensatz zu ihm, wenigstens auf dem weiten Feld des Krieges mitwirken durfte, bedauerlicherweise nun aber mit der Moral seiner Werke die eigenen Kameraden demütigte und verriet. So einen mochte O. nicht.