Wo Träume sterben und der Beton lebt
Neumünster ist wahrlich kein Ort, den man gezielt besucht. Diese Stadt existiert einfach – wie ein zufälliger Kuhfladen mitten in der Landschaft, auf halber Strecke zwischen Hamburg und Kiel. Fast, aber eben nicht wirklich im Herzen Schleswig-Holsteins. Neumünster liegt irgendwie immer im Weg.
Eigentlich kommt man nur durch Neumünster, selten bleibt man stehen. Die Stadt nimmt man meist nur flüchtig wahr – mit ihrer typisch norddeutschen, aber dabei trist-langweiligen Atmosphäre, oft nur durch das Bahnhofsfenster betrachtet. Aus der Kindheit sind Erinnerungen geblieben, aber mehr als der Name blieb davon nicht haften: ein Bahnhof, ein endloser Bahnsteig und umständliches Umsteigen auf dem Weg nach Büsum oder Richtung Nordsee.
Neumünster. Was soll das eigentlich?
Die Innenstadt ist eine Baustelle – große und kleine, Lärm, Asphalt und Staub. Touristen? Gibt es so gut wie keine. Was die Menschen nach Neumünster zieht, ist vor allem das Designer Outlet, die sogenannte „goldene Krone“ der Stadt. Doch diese Handelsstadt im Miniaturformat macht Neumünster noch lange nicht zur Kaufmannsstadt – aber Kommerz ist ja immerhin auch eine Art von Kultur. Außerdem gibt es ein Einkaufszentrum und eine große Brauerei mit öffentlichen Bierverkostungen. Das ist nichts für mich – Alkohol macht mich einfach immer betrunken. Gebraut wird unter anderem ein kräftiges Arbeiterbier, angeblich noch echte Tradition aus der guten alten Zeit der Tuch- und Lederfabriken. Eine Arbeiterstadt; Näheres dazu gibt es im Museum Tuch + Technik.
Das kulturelle Angebot Neumünsters ist ansonsten so grau wie die Fassaden der Stadt. Der Veranstaltungskalender gleicht einem Baukastenspiel aus immergleichen Veranstaltungen.
Neumünster ist eine gebeutelte Stadt. Das Arbeiterherz Schleswig-Holsteins musste viel erleiden: Im Zweiten Weltkrieg war Neumünster Ziel zahlreicher schwerer Luftangriffe, die die Stadt stark zerstörten und viele Todesopfer forderten. Besonders zwischen 1942 und 1945 litten die Neumünsteraner unter den Kriegswirren. Sieben schwere Bombenangriffe britischer und amerikanischer Bomberverbände forderten über 1.000 Tote und legten ein Drittel der Gebäude in Schutt und Asche. Zu den Opfern zählten auch Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, die häufig in dem großen Eisenbahnausbesserungswerk eingesetzt wurden – ein strategisch wichtiges Ziel, das gezielt bombardiert wurde.
Neumünster ist eine traurige Stadt.
Hans Fallada war 1929 bis 1930 als Reporter bei einem Anzeigenblatt in Neumünster und – wie sollte es anders sein – verarbeitete seine Erfahrungen mit der Stadt in seinem Werk, insbesondere die Bauernprozesse von 1929 im Carl Sager Haus.
Neumünster gilt als Kriminalitäts-Hochburg Schleswig-Holsteins und sorgt immer wieder für True-Crime-Schlagzeilen. Ungeklärte Cold Cases wie der Mord an der 29-jährigen Monika Elter, der seit 1988 nicht gelöst ist, und der Fall Hannelore Zscherper, einer 26-jährigen Mutter von drei Kindern, deren Leiche 1984 in einem Wassergraben gefunden wurde, bleiben im kollektiven Gedächtnis. Auch der sogenannte „Sirius-Fall“ sorgte Anfang der 1980er für Schlagzeilen: Fred Gaster aus Neumünster wurde wegen versuchten Mordes verurteilt, möglicherweise war er sogar ein Serienmörder. Alles schrecklich und bedrückend.
Dann doch lieber die Flucht in die Natur, die glücklicherweise nahe liegt. Das Dosenmoor, das größte noch erhaltene Hochmoor Schleswig-Holsteins, ist ein lohnendes Ziel für Wanderungen und Naturbeobachtungen. Bleibt nur noch das Wetter, das hier in der Gegend fast immer schlecht ist – grau, nass, unfreundlich. Traurig eben.
In Lübeck sagt man, Depressive sollten nach Neumünster gehen, um sich aus Mitleid mit dieser traurigen Stadt selbst zu heilen.
So jedenfalls hört man es. Am besten verlässt man den Bahnhof also gar nicht, sondern fährt möglichst schnell weiter – nach Büsum, Segeberg oder Hamburg-Altona.