Als Anton Brill zum ersten Mal in seinem Leben Lübecker Boden betrat, war ihm schon sehr komisch zumute. Mit einem Gefühl beträchtlicher Überheblichkeit trat er in Berlin diese Reise an, nachdem er von seiner Familie Abschied genommen hat.
Obwohl sein Vater zuerst völlig selbstverständlich bestimmte, dass Anton jetzt nach Abschluss seiner Ausbildung zum Concierge und Kellner, die er im Übrigen völlig anstandslos im Hotel Adlon absolviert hatte, seinen „Schliff“, wie er sich ausdrückte, in einem nicht minderbedeutenden Haus in London oder, am besten, gleich in New York vervollständigen sollte, wurde es nichts mit Amerika. Und auch nicht mit London.
Vermutlich überschätzte er seine bedeutenden Kontakte, anders ist es nicht zu erklären, weshalb schliesslich nichts anderes als eine Stelle im Ratskeller zu Lübeck herauskam. Aber Anton fügte sich gerne, wie eigentlich auch sonst immer, jetzt allerdings zum letzten Mal.
Erst ein einziges Mal ist es vorgekommen, dass sich Anton den Wünschen des autoritären Vaters entgegenstellte. Zumindest den Versuch wollte er damit unternehmen, seinen Vater umzustimmen. Denn er strebte nicht zur Gastronomie, sondern wollte sein Interesse zur Fotografie zu seinem Beruf machen. Doch das war unmöglich.
Der dienende Beruf lag der Familie in den Wurzeln, meinte der Vater. Sich unentbehrlich zu machen, sei Schlüssel zu Wohlstand und Sicherheit.
So fuhr er also mit der Eisenbahn nach Lübeck und es war ihm recht, nur weg vom Vater, da war Lübeck weit genug.
Nach seiner Ankunft aber, wurde er irritiert. Er wusste nicht viel über die alte Hansestadt, doch das wenige, kannte er aus den Geschichtsbänden und Lexika der väterlichen Bibliothek: Die alten Ansichten einer goldenen, bewehrten Stadtanlage mit den berühmten sieben Türme. Doch nach dem er aus dem modernen Bahnhof hinausgetreten war, fühlte er sich in einen Vorort versetzt. Zuvor war Anton aus Berlin nie herausgekommen. Ausflüge mit der Familie führten höchstens nach Potsdam, mal nach Erkner hinaus. Und Lübeck konnte auch nicht mit der Hauptstadt des Deutschen Reiches zu vergleichen sein, dass wusste er schon. Doch er erwartete nicht, die nächsten Jahre in einer Kleinstadt verbringen zu müssen.
An diesem 17. April des milden Jahres 1912 schienen die Menschen auf den Strassen keinerlei Notiz von dem Neuankömmling zu nehmen. Die Lübecker schauten in die Luft. Ein älterer Herr, den Anton in der grünen Anlage vorm Bahnhofsvorplatz nach dem Weg fragte, erklärte ihm freundlich den Grund dieser Himmelsfaszination: Man erwartete zu diesen Mittagsstunden jeden Augenblick die angekündigte Sonnenfinsternis. Deshalb auch diese Schutzgläser, mit denen selbst Kinder hantierten. Anton ärgerte sich, auf diese Situation nicht vorbereitet zu sein. Die Reisevorbereitungen waren zu zeitraubend, eine Zeitung war ihm während der Fahrt nicht untergekommen. Wenigstens bestand bald die Gelegenheit, tröstete sich Anzen zu dürfen.
Als Anton schon fast an seiner neuen Wirkungsstätte angekommen war, kurz vor dem Kohlmarkt, blieb er stehen und konnte, sogar ohne Schutzbrille, erkennen, wie der Mond die Sonne verfinsterte. Als er die Korona mit bloßen Augen dort oben flackern sah, dachte er an den Neuanfang, der sich ihm damit symbolisch bot. Mindestens Oberkellner wollte er werden, um damit dem Stolz der Familie Genüge zu tun. Und dann sich dieser unabhängig endlich der wahren Berufung zu stellen. Er war sich in diesem Moment ganz sicher, als Fotograf mindestens denselben Verdienst zu erlangen, wie mit der Dienere.
Nur einige hundert Meter entfernt beobachtete ein anderer junger Mann dieselbe Himmelserscheinung. Fritz Klaarmann, zufällig auch gerade 19 Jahre alt geworden, lag am Ufer der Wallhalbinsel in einer Schräglage auf dem Rücken und blinzelte durch eine verrußte Scherbe der Sonne entgegen. Er schuftete sonst als Lagerarbeiter in einen der riesigen Holzschuppen, die sich über den Landrücken entlang der alten Schienen erstreckten. Und auch er erkannte in dieser Erscheinung ein Symbol, er fühlte nämlich eine sonderbare Verbindung zum Feuer.
Er spürte da etwas, wusste es aber keineswegs zu deuten, unabhängig über sein Geld verfügen zu können und deshalb sich endlich eine vernünftige Kamera zu kaufen. Vielleicht würde hier sogar die Möglichkeit bestehen, ein Labor mitbenutzen zu können…?