Wesermarsch, Niedersachsen, Deutschland

Das überschaubare Schifferörtchen Brake, im Viereck Bremen, Bremerhaven, Oldenburg und Wilhelmshaven gelegen, sprenkelt sich entlang der Unterweser wie die Bremsspuren in der Unterhose eines Seemanns.

Heute eine Schlafstadt, das Leben spielt sich hier an der Hafenkaje ab, unterhalb der Industriesilos. Wenn man da so sitzt oder geht, abends, wenn dahinten im Westen geht die Sonne untergeht, erwischt man sich beim Träumen. Von Amerika. Dahinten liegt Bremerhaven und danach kommt das offene Meer. Nordsee, Nordatlantik. Und dann kommt Brooklyn.
Aber hier ist immer noch Brake.
Hübsch ist etwas anderes.
Brake ist praktisch und gut.
Eigentlich besteht der Ort nur aus Familienhaussiedlungen. Aus der Vogelperspektive erschliesst sich ein Meer von parallelisierten Eigenheimoasen zwischen Parallel- und Querstrassen. Schicksalshafte Heimstätte für Niedersachsens Provinzjugend. Generationen auf der Flucht vor den Grillgerüchen an den Wochenenden.
Das war nicht immer so.

Vor der deutsch-deutschen Wiedervereinigung war in Brake wenigstens noch etwas los.
Da gab es, ausgerechnet am Friedensplatz, eine Kaserne, die jeder Schiffstechniker der Marine zu seiner Grundausbildung durchlaufen musste.
Und zwar seit 1936, deshalb nannte man Brake einen Traditionsstandort.
Schon unter Hitler wurden hier die Schiffstechniker der Kriegsmarine ausgebildet. Damals wie heute wurden die Soldaten „Mariner“ genannt und das Verhältnis zwischen der Stadt und der Kaserne war nicht immer unkompliziert.
Nachdem aus dem Kasernentor jeden Abend Soldaten in die Stadt strömten kam nicht selten zu handfesten Reibereien.
So teilte sich die örtliche Kneipen- und Discothekenlandschaft auf: in Läden für Einheimische und in Läden für Mariner. Und was soll man sagen? Jeder soll diese Unterscheidung respektiert haben.
Neue Soldaten wurden vor dem ersten Landgang peinlich genau eingewiesen, welche Lokalitäten in der Stadt sie entern dürften und an welchen sie nur zügig vorbei gehen sollten. Das „Admiral Brommy“ durften sie, das war fest in Händen der Marine.
Das „Admiral Brommy“, oder einfach nur „Brommy“, war eine Diskothek, die besonders von den männlichen Einheimischen fast schon gehasst wurde. Aus naheliegendem Grund. Die Mädchen Brakes liebten den Laden dafür umso mehr. Für manche der Mädchen entsprach jeder Soldat einem Traum und alle diese Träume boten die Chance, endlich aus diesem Kaff herauszukommen. Einen Traum über die Große, weite Welt.
Weil die angehenden Maate und Bootsmänner diesen Traum auch träumten oder weil die Mädchen traditionellen Schiffer- oder Bootsbaufamilien entstammten und mit solchen Träumen groß wurden.
Und die ganzen Tanjas, Petras, Helgas und Andreas aus Brake wussten nicht, dass Matrose Stefan, Markus, Falk, Hans und Jan auch nur aus irgendeinem langweiligen Kaff in Deutschland kam. Andererseits wurden nur relativ wenige Marineehen in Brake geschlossen, aber vielleicht ging es den Mädchen aus Brake ja auch nur um diesen Traum.
Nach drei Monaten zerplatzten die meisten dieser Träume. Das war manchmal tragisch, selten auch dramatisch, geschah aber wenigstens mit Ansage.
Nach drei Monaten, einem „Quartal“, ging nämlich jede Grundausbildung zu Ende.
Dann fingen die Träume mit neuen Rekruten wieder an.

Heute wird in Brake erheblich weniger geträumt, denn die Zeiten der Mariner sind hier längst vorbei und gehören zum „Damals“.
Damals, nach der Pleite des Ostblocks, der deutschen Wiedervereinigung und der Fusion zwischen der Bundeswehr und der Nationalen Volksarmee der DDR, in den letzten neunziger Jahren des vergangenen Jahrtausends. Der Traditionsstandort Brake wurde überflüssig, die Marinetechnik sollte künftig in Mecklenburg gelehrt werden.
Man sagt, in Brake sei es seitdem ruhiger geworden. Andere sagen, langweiliger.
Ob nun in Brake mehr geheiratet wird, weiß ich nicht.
Die Sehnsucht nach Amerika ist aber geblieben, wenn man da an der Kate steht, unterhalb der Industriesilos.



Ein Kommentar

  1. Ja, so war das damals….lol….ich bin damals aus persönlichen Gründen (Jahrgang 1958) von Brake weggegangen. Ich weiß noch genau, hab die Bilder in meinem Kopf – 3.Auge – wie mein Papa am Schienenstrang zur großen, weiten Welt mir nachgewunken hat, als ich in den Hochschwarzwald ins Hotelfach gewechselt bin.
    Nun ist es 46 Jahre her und ich habe mein ganzes Berufsleben in Hessen verbracht außer 1 Jahr – das 1. Jahr weg von Brake im Hochschwarzwald/Baden Würtemberg. Nach Altglashütten ins Hotel Sonneck.
    Nun ziehe ich heute 12/2024 und 66 J. jung zurück in die schöne Wesermarsch, nach Berne und freue mich sehr, endlich zurück nach Hause kommen zu dürfen. Das Lied von Udo Lindenberg „Hoch im Norden“, trifft genau auf mein Leben zu.
    Herzliche Grüße
    Konstanze Hoffmann/ geb. Brakerin

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