Wo ich das Herz Spaniens entdeckte und den Flamenco nie gesucht habe
Das erste was ich von Barcelona wahrgenommen habe, war diese Hafenseilbahn.
Ich fuhr von Süden, von der Küste aus in die Stadt hinein und sah plötzlich diese eckigen Kabinen über der Strasse schweben.
In den Alpen sind Seilbahnen nichts ungewöhnliches, aber hier in Barcelona rechnete ich überhaupt nicht mit solchen Verkehrsmitteln, zumal diese hier richtig Vintage aussehen und mir deshalb überhaupt erst aufgefallen sind. Glücklicherweise sehe ich dann manchmal solche Dinge auf den zweiten Blick und recherchiere später dann dazu.
Ich hätte mir diese Seilbahn gerne genauer angesehen, die bereits anlässlich der Weltausstellung 1929 eröffnet werden sollte. Man unterschätzte den Bauaufwand, so dass der Betrieb dann doch erst am 1. September 1931 startete.

Die zwei grossen Stahltürme führen die Bahn direkt über das Herz, den Hafen Barcelonas, ganze 213 Meter hoch auf den Montjuïc. Der Hamburger Hafen ist wesentlich größer als der Hafen von Barcelona, wenn dieser auf den ersten Blick auch größer wirken vermag. Größer, weil alles offener und mehr dem Kern der Stadt angeschlossen scheint. Der Mittelmeerhafen hat es trotzdem in sich und geizt nicht mit Geschichten.
Barcelona war immer ein zentraler Transitort, im Bürgerkrieg für republikanische Flüchtlinge und während des zweiten Weltkriegs für Immigranten und Flüchtlinge, die aus ganz Europa auf der Flucht vor den Nazis waren. Ein transnationaler Knotenpunkt und Schlüsselstelle für Agenten und Geheimdienstaktivitäten. Der Montjuïc, dieser kleine Berg über dem Hafen, hat während der Franco-Diktatur bis in die siebziger Jahre eine wichtige Rolle gespielt, eine äusserst blutige sogar. Hier wurden Aktivisten des Widerstands inhaftiert und ermordet. Heute ein spanischer Gedenkort.
Unten, am Fuß des Montjuïc, schlängelt sich der Verkehr über einem großen Kreisverkehr weiter zum Plaza de Colon, der dem italienischen Kapitän in kastilischen Diensten Christoph Kolumbus, dem Entdecker Amerikas, gewidmet ist.
Plötzlich befinde ich mich unter einer riesigen spanischen Flagge. Ein Statement an die Separatisten.
Barcelona ist für manche immer noch die eigentliche Hauptstadt Spaniens, katalanische Autonomie hin oder her.
Mitten auf dem Platz wacht eine Skulptur des Seefahrers aus purem italienischen Marmor auf einer siebzehn Meter hohen Säule. Seit 1885 steht das Kolumbus-Monument hier, unbeschadet der teilweise kriegerischen Ereignisse der Historie. Insgesamt soll es zu 240 Luftangriffen zwischen 1937 und 1939 gekommen sein, etwa 6000 Gebäude wurden dabei zerstört oder schwer beschädigt. 1938 gab es heftigsten Bombenangriffe der italienischen Luftwaffe auf Barcelona.
Die Angriffe mit Brand- und Sprengbomben auf das Stadtzentrum erforderten rund 1000 Todesopfer.
Auch auf der berühmten La Rambla, der Prachtstrasse Barcelonas, wurde gekämpft.
Schon zu Beginn des Bürgerkrieges 1936 war die Strasse Brennpunkt sogenannter „revolutionärer Kämpfe“ zwischen den unterschiedlichen linken, kommunistischen, anarchistischen und eher liberalen republikanischen Kräften, die um Befehls- und Deutungshoheit in Barcelona kämpften.
Zwischen diesen Auseinandersetzungen kam es immer wieder zu Anschlägen und Angriffen durch die Putschisten Francos.
Recht eindrucksvoll geschildert wurde diese Zeit im Roman „Hommage to Catalonia (Mein Katalonien)“ des britischen Schriftsteller George Orwell („1984“, „Farm der Tiere“).
Nach Scheitern der militanten Machtergreifung durch die Faschisten übernahmen Anarchisten die Kontrolle in Barcelona.  Die la Rambla als zentrale Verkehrsachse der Stadt, wurde von Milizposten und Barrikaden geprägt, das öffentliche Leben jener Jahre wurde dabei komplett von Arbeitern und Bürgern in Gemeinschaft organisiert – teilweise zwischen heftigen Kugelhagel und Feuer. Besonders blutig waren die so genannten „Mai-Ereignisse“ im Mai 1937, die von grausamen Kämpfen zwischen Kommunisten und Anarchisten geprägt waren.
Spuren der Kampfhandlungen sind noch heute vereinzelt in den Fassaden zu erkennen.
1939, kurz bevor es Francos Truppen Barcelona erobert hatten, zogen massive Flüchtlingsströme durch die la Rambla. Zivilisten, Soldaten und politische Gegner des Regimes Franco, die über Katalonien und Barcelona an die Grenze Frankreichs flohen. Barcelona war die letzte Chance vor der Flucht über die Pyrenäen.
Im Verlauf des Zweiten Weltkriegs kam es dann zu gegenteiligen Flüchtlingsströme. Dabei nutzten rund 30.000 Menschen Barcelona, die auf ihrer Flucht vor den Nationalsozialisten über Spanien und Portugal nach Übersee emigrierten. Viele kamen dabei, wie auch der Lübecker Schriftsteller Heinrich Mann, über die Pyrenäen, andere über dem Seeweg aus Genua und Marseille.

Die La Rambla ist gegenwärtig noch immer eine Prachtstrasse. Die breite Promenade zwischen Verkehr, dichten Baumkronen und grossartigen, mächtigen Fassaden zwingt förmlich zum flanieren; hier kann man nicht einfach durchgehen. Strassencafés mit aufdringlichen, nervigen Typen, die mit Speisekarten herumfuchteln und günstige Mittagsmenüs offerieren. Slalom laufen ist angesagt.
Und immer wieder Kioske und Verkaufsbuden, billige Souvenirs und ein seltenes Angebot an weltweiten Presseerzeugnissen: daran erkennt man echte Metropolen. Und an der Qualität der Souvenirs. Originelle Souvenirs werden nach Jahrzehnten nicht selten für dreistellige Summen gehandelt, manchmal werden sie sogar zum ikonischen Symbol der Weltstädte, denkt man alleine an die kleinen, goldenen Eiffeltürme aus Plastik, die es in Paris überall in den unterschiedlichsten Größen gibt.
Ich genehmige mir einen Abstecher im Gedenken an George Orwell, verlasse die La Rambla und schwenke rechte Hand in die Carrer della Escudellers, erreiche schliesslich nach einigen Schritten die Placa George Orwell.
Ein seltsamer Ort, der außer dem Namen fast nichts mit dem Schriftsteller zu tun hat. Man erzählt sich jedoch, dass an diesem Platz Anfang der Achtziger Jahre die erste Überwachungskamera installiert wurde.
Ob’s stimmt?
Es würde zu den Prophezeiungen in „1984“ jedenfalls passen.
Die moderne Kunst, die hier öffentlich ausgestellt wird, hat übrigens auch keine Verbindung zu Orwell.
Zurück auf die La Rambla, es geht in Richtung La Plaza de Catalunya, dem zentralen Platz Barcelonas und dem Herz dieser Metropole, wie ich finde.
Links und rechts gefallen mir Ladengeschäfte. Tabak, Tattoos, Shop-Sui, Pizza und vieles mehr. Cafés aus der alten Zeit, modernisiert oder als Zeitkapsel. In der Mitte der La Rambla die alte Oper, dazwischen internationale Mode. Der Shop eines klassischen, amerikanischen Jeans-Produzenten enttäuscht jedoch; an dieser Meile wäre doch ein Flagstore angemessener.
Kurz vor dem Platz, nie zu vergessen, ein kurzer Halt am Font des Canaletes. Das ist ein unscheinbarer Brunnen aus Metall, der 1860 eingeweiht wurde. Angeblich gehört er zu den eher unbekannten Wahrzeichen der Stadt, obwohl dort traditionell Fussballergebnisse verkündet werden und der Brunnen deshalb unter FC Barcelona-Fans so etwas wie Kult ist und es gibt diese Legende, nach der jeder, der vom Wasser dieses Brunnen trinkt, irgendwann einmal nach Barcelona zurückkehren wird.
Wer würde das nicht wollen, oder?
Direkt am Plaza de Catalunya lädt ein grosser Primark ein.
Ich bin natürlich nicht alleine unterwegs und muß jetzt dort hinein, nutze aber solche zwangsläufigen Gelegenheiten dann ganz gerne zum fotografieren. Im zweiten Stock bot sich wie erwartet ein grossartiger Blick auf den verwirrenden Platz mit Geschichte.

Dort drüben, irgendwo auf den Dächer genau gegenüber, erschien mir die Gestalt eines Mädchens mit einem Gewehr. Ich erinnerte mich an das berühmte schwarzweiss-Foto von Juan Guzman, der es 1936 auf dem Dach das Hotel Colon aufgenommen hatte, zu diesem Zeitpunkt Zentrale der Gewerkschaft. Das Hotel Colon gibt es aber schon lange nicht mehr, es brannte nach dem Krieg aus und wich einem Neubau.
Das Foto war inszeniert und wurde zur Propagandaikone.
Das Mädchen hieß Marina Ginestà und hat erst kurz vor ihrem Tod, im hohen Alter vom Ruhm der Fotografie erfahren.
Verdient hat sie an dem Foto natürlich auch nichts, was wiederum überhaupt nicht sozialistisch ist.
Nichtsdestotrotz bleibt für mich die la Ramba und der anschließende Platz nicht nur das Zentrum Barcelonas, sondern sogar ein bisschen die Hauptschlagader Spaniens (sorry, Madrid).
Natürlich gibt es in Barcelona viel mehr als die La Rambla und Plaza de Catalunya.
Einfach den Touristen nach, die da, benommen vom quirligen Treiben, vom großen Platz, in die Seitenstraßen, in den kühlen Schatten hinein torkeln. Sie suchen und finden die Baukunstwerke des spanischen Architekten Antoni Gaudi, zur berühmten Sagrida Familie ist es nur eine halbe Stunde Fussmarsch, und manche suchen immer noch den Flamenco, obwohl der eigentlich aus Andalusien kommt. Aber das sind andere Geschichten.
Deshalb werde ich jetzt auch einfach wieder die La Rambla heruntergehen, zum Hafen.
Zum Abschied noch ein Schluck vom Font des Canaletes, nicht zu vergessen.