Rostock

Mecklenburg-Vorpommern, Deutschland

„Nicht so viel wie Lübeck, aber mehr als Wismar“, heisst es irgendwo in der Deutschen Chronik von Walter Kempowski über Rostock. Diese bescheidene Feststellung auf die Frage, welchen Stellenwert unter den Ostsee-Städten wohl Rostock einnehmen würde, bringt hanseatisches Understatement auf den Punkt. Was ist es wert? Wenig. Die Hanse ist Geschichte und Klischee. Früher, also fast genau bis ich die Volljährigkeit erreicht habe und es die „DDR“ (ich schreibe es immer noch konsequent in Anführungszeichen: denn dieser Schweinestaat war nicht deutsch, sondern sowjetisch; nicht demokratisch sondern sozialistisch und keine Republik, sondern eine Diktatur) noch gab, war Rostock so unerreichbar wie Wladiwostok. Das lag aber nicht nur an der Unerreichbarkeit: In unserem Hauptbahnhof gab es ein extra Gleis für Züge in die Ostzone, hinter Gitterzaunkontruktionen warteten Zöllner und BGS-Beamte, die Reisenden zu kontrollieren. Schon dort begann für mich als Kind die Zone, schien der Anfang von Sibirien.
Da wo Rostock lag, war für mich Kempowskiland. Die Roman-Chronologie von Walter Kempowski galt bei uns als historische Pflichtlektüre. Kempowski chronologisierte die dunklen Jahren der NS-Zeit auch aus kindlicher Naivität seiner Erinnerung. Er setzte dabei nicht nur seiner Familie ein literarisches Denkmal, sondern auch seiner Heimatstadt Rostock. Rostock verwendete er nicht nur als Szenerie, sondern mit Stein und Menschen sozusagen als eine Art Sujet.


Vor der deutschen Wiedervereinigung gab es Kempowskiland nur im Westen. Fast nur. Tatsächlich sind eine Exemplare der deutschen Chronik, hauptsächlich „Tadellöser & Wolf“, über die Grenze geschmuggelt worden. Sie kursierten, bis zur Unkenntlichkeit zerfleddert, unter mutigen Rostockern.
Nur Wochen nach der Grenzöffnung kam mein Schulfreund, der einzige in meiner Klasse, der übrigens wußte, wer Walter Kempowski war, auf die Idee, nach Kempowskiland zu fahren. Eine spontane Forschungsexpedition, die durch damalige politische Verhältnisse möglich wurde. In der Augustenstrasse stiessen wir Literatur-Archäologen bis zu Walters Mansarde vor. Die Wohnung war hingegen verschlossen, im Treppenhaus gingen wir ehrfurchtsvoll am Milchglasfenster vorbei. Dass war vor oder nachdem die Brüder Robert und Walter auf Spurensuche gingen. Durch die Stadt ging es mit „illegalen Taxis“, befördert also durch Rostocker, die sich um Westmark bemühten.


Und heute? Ist Rostock so schön und so frisch wie ganz Norddeutschland. Vom Kempowskiland ist wenig übrig geblieben. Obwohl: Kempowskis Elternhaus in der Augustenstrasse steht ja noch. Die Fahrt ins sommerliche Warnemünde, zwar durch hässliche Plattenbauten verstellt, ist auch noch möglich. Seit 1993 befindet sich das Werkarchiv von Walter Kempowski im Rostocker Kempowski-Archiv, zu erreichen über den Hof des Klosters zum Heiligen Kreuz. Auf einer Tafel am Kriegerdenkmal stehen auch noch die beiden Namen, die Literaturgeschichte geschrieben haben: Pingel und Topp. Und nicht zu vergessen die Marienkirche. Am südöstlichen Außenpfeiler des Südflügels läßt sich die Sonnenuhr entdecken, die Kempowski der Kirche 2006 geschenkt hat.
Trotz der Wiedervereinigung (in Rostock immer noch „Wende“ genannt) ist Rostock weit weg geblieben. Eigentlich schade, oder?

Leserbrief schreiben

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.