Venlo

Limburg, Niederlande

Kurz vor Venlo kann man im Niemandsland Kaffee trinken.
Oder Tee.
Direkt auf der Deutsch-niederländischen Grenze, zwischen den beiden Grenzlinien, steht seit Jahrzehnten das Café Backus.
Hier wurde Geschichte geschrieben. Geheimdienstgeschichte.
Wenn sich Geheimdienst-Historiker treffen, dann im Café Backus in Venlo. Ein Muss. Man sitzt dann drinnen und tauscht geschichtliche Nebensächlichkeiten aus, verhandelt historische Sachlichkeiten und streitet über konspirative Plausibilitäten.

Blick aus dem Café

Und guckt nach draussen, an genau die Stelle, an der am 9. November 1939 die britischen Nachrichtendienstler Major Richard Stevens und Captain Sigismund Payne Best in die Falle der Nazis gingen.
An genau dieser Stelle, an der Ecke zur Veranda, war es. Da ging die Schiesserei los.
Als die beiden dann in den Wagen der Deutschen gedrückt wurden, ging der letzte Blick zum schwerverletzten Leutnant Copper, der angeschossen am Boden lag. Der letzte Gedanke, so Best nach dem Krieg, galt dem, was kam. Nur wenige Meter, da war das Deutsche Reich.

Die Szene stammt aus keinem Groschenroman, sondern war bittere Realität.
Die Falle der Nazis war ein fingiertes Treffen deutscher Widerstandskämpfer aus den Reihen der Wehrmacht und britischer Nachrichtendienstler. Die Geheimdienstleute waren echt, die Widerstandskämpfer falsch. Und die Verhaftung der Briten wurde von der Propaganda als grosse Geschichte verkauft.
Stevens und Best wurden als Drahtzieher hinter dem Anschlag im Löwenbräukeller bezeichnet. Denn der bereits festgenommene Georg Elser konnte im Weltverständnis der Nazis auf keinen Fall alleine gehandelt haben. Eine weitere These der Weltverschwörung, die sich nach dem Krieg als Propagandalüge bewies.

An der Grenze – damals und heute


Doch die Verhaftung und Entführung – der angeschossene Copper, hinter dem sich der niederländische Geheimdienstoffizier Dirk Klopp verbarg, erlag wenig später seinen schweren Verletzungen – sorgte für weitreichende Konsequenzen. Dass die Holländer ganz offensichtlich mit den Briten zusammenarbeiteten, war für Hitler ein willkommener Grund, ihnen ihre Neutralität abzusprechen.
Im Mai des folgenden Jahres liess er schliesslich die deutsche Wehrmacht in den Niederlande einmarschieren. Und beim britischen Geheimdienst rollten Köpfe. Die ganze Sache war nicht nur eine nachrichtendienstliche Katastrophe, sondern auch eine weltpolitische Blamage. Das Unterfangen, ein konspiratives Treffen praktisch im Niemandsland des Grenzgebietes zum größten Feind durchzuführen, war allerdings nicht nur naiv, sondern ganz einfach dumm.
Best und Stevens liess Hitler als sogenannte „Ehrengefangene“ in verschiedenen Konzentrationslagern einsitzen, um mit ihnen dann nach dem Krieg, so sein Plan, in einem inszenierten Schauprozess abzurechnen. Die Odyssee der britischen Geheimdienstler in Deutschland endete, nach einem abenteuerlichen Transport mit anderen „Ehrengefangenen“ als Gefangene der SS, erst 1945.
Gemeinsam mit Leon Blum, Martin Niemöller, Isa Vermehren, Familienangehörige derer von Stauffenberg und vielen anderen wurde die Gruppe am 4. Mai 1945 von US-amerikanischen Truppen in den Dolomiten befreit; wiederum eine ganz andere Geschichte.
Captain Best und Major Stevens kehrten nach schlechten sechs Jahren zurück in ihr Heimatland England. Sigismund Payne Best kümmerte sich in den folgenden Jahren hauptsächlich um seine Altersversorgung und verstarb 1978 im Alter von 93 Jahren. Er hinterliess unter dem Titel „The Venlo Incident“ seine Memoiren.


Ob und wie oft die Beteiligten anschließend noch einmal an der deutsch-niederländischen Grenze in Venlo standen, die lange Allee in den Osten hinunterblickten, dorthin, wo damals das Deutsche Reich war; man weiß es nicht.
Heute erinnert hier praktisch nichts mehr an diesen denkwürdigen und geschichtsträchtigen Zwischenfall. Kein Denk- oder Mahnmal, nicht einmal ein bescheidener Hinweis. Trotzdem ist das Café sehr gut besucht. Publikum wie in einer Raststätte.
Abseits dröhnt die A67 aus dem Ruhrgebiet vor sich hin.
Hier an der abseitigen, alten Landstrasse macht nur Rast, wer es gemütlich will. Mit alten Agentengeschichte ist da überhaupt nichts anzufangen. Hier jetzt Leute nach Geschichtlichem zu fragen, bringt gar nix. Die meisten Holländer würden sich provoziert fühlen, die Deutschen kämen ganz schnell auf Hitler und dann auf die Autobahn. Wäre beides unschön.
Also schnell weiter ins „richtige“ Venlo.
Vom Stadtrand weg geht es durch Industriegebiete und breiten Allee ins Zentrum, direkt an Maas. Genau bis dorthin ging der nationale Wahn einst, zumindest noch im Liedgut.
Das Stadtzentrum wurde bei meinem letzten Besuch von einem Primark beherrscht, die ganze Stadt wirkte niederländisch modern. Moderne Brücken, moderne Bauten, fortschrittliche und sauber Verkehrsinfrastruktur. Aber irgendwie auch kalt und ungemütlich.
Ein gigantischer Bahnhof durchzieht mit seinen Anlagen die Stadt wie ein stählernes Band; von Nordwest nach Südost. Von Südwest nach Nordost durchkreuzt die breite Maas, vollendet somit das Verkehrskreuz Venlos. Vorm Bahnhof, mit einem wirklich imposanten und verkehrsreichen Vorplatz, sammelt sich eine deutsche Reisegruppe für die Rückfahrt und wartet auf ihren Bus. Ich gehe vorbei und rieche es deutlich, hier wurde kräftig Käse eingekauft: der strenge Limburger, wir befinden uns ja in der Provinz Limburg. Käse und Gras. Der Duft eines Landes.
Neben noch einkaufsfähigen Rentnern bevölkern jugendliche Tagesgäste die Stadt. Obwohl um Venlo herum höchstens eine knappe handvoll Cannabis-Läden, sogenannte Coffee-Shops, gibt, sind deren Adressen wohlbekannt. Holland eben.
Venlo ist für mich dann doch mehr Café Backus und die Geschichte des „Venlo-Zwischenfall“.
Auch wenn der hier mittlerweile völlig vergessen wurde. Und damit auch Stevens, Best und Klopp, der von den Nazis niedergeschossen wurde. Nicht einmal einen Hinweis, denke ich.

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