Müssen Kinder

mehr aushalten als ihre Eltern?

Familienpsychologen beschäftigen manche Medien aktuell mit der Frage, weshalb so viele Kinder im Laufe des Lebens ihre eigenen Eltern verstoßen. Abstinente Kinder – wobei auch abstinente Eltern hinterfragt werden sollten.

Ich persönlich habe die Frage um die Abwesenheit meiner leiblichen Eltern bisher erfolgreich verdrängt und unterdrückt. Jetzt, in der (theoretischen) Mitte des Lebens, im 50.Lebensjahr, kommen diese Fragen allerdings mit geballter Kraft zurück. Fragen, die sich um eine seltsame Entwicklung drehen, die eigentlich schnell erzählt ist.

Entstanden bin ich Anfang der siebziger Jahre aus einer eher improvisierten Beziehung zweier Menschen aus der holsteinischen Provinz. Mein Vater und meine Mutter waren Anfang Zwanzig und konnten gegensätzlicher kaum sein. Er war junger Polizeibeamter und sie jobbte und war vom Rotlichtmilieu fasziniert. Um mich kümmerte sich schon sehr früh eine „Tagesmutter“, eine 69jährige kinderlose Frau, die später noch eine größere Rolle in meinem Leben spielen sollte. Mein Vater trennte sich schnell von meiner Mutter, die weder Zeit und Interesse für ihren Sohn hatte. Er erhielt das Sorgerecht, was damals in den Siebzigern eigentlich sehr ungewöhnlich war. Aber der Kontrast zwischen Polizeidienst und Rotlicht war wohl auch für damalige Familienrichter zu krass. Die Tagesmutter wurde schließlich zur Pflegemutter, mein Vater beschränkte sich immer mehr zu einer Art großem Bruder, der mich an den Wochenenden besuchte. Unter Beobachtung des Jugendamtes, dass diese ganzen Jahre wohlwollend beobachtete. Das ging gut, bis ich etwa elf Jahre alt war. Bis mein Vater mit dem Erziehungsstil der Pflegeeltern, die er auch für viel zu alt hielt, unzufrieden war. Das die Pflegeeltern meine eigentlichen Eltern waren, mit denen ich sehr gut auskam, interessierte dabei nicht. Es entstand ein Konflikt zwischen den Pflegeeltern und meinem Vater, ich befand mich zwischen den berühmten Stühlen. Bis ich dann eines Tages, plötzlich und ohne Vorwarnung, von meinem Vater aus dem Unterricht geholt wurde. Und mich am Abend in einem Internat wiederfand. Eine Situation, die sich als eine Art Traum in mein Gedächtnis brannte. Zu meinen Pflegeeltern durfte ich nicht mehr. Mein Vater holte mich nur selten aus dem Internat. Ich wollte aber dorthin zurück, wo ich meiner Meinung und meiner Gefühle nach hingehörte: zu meinen Pflegeeltern. Und wurde in meiner Verzweiflung frech, aufsässig, geradezu obstinat. Mein Vater fuhr mit mir zum Jugendamt, setzte mich in den Flur und führte in irgendeinem Büro ein längeres Gespräch. Anschließend wünschte er mir alles Gute für mein weiteres Leben und verschwand. Ich sah ihn nie wieder.

Das Jugendamt suchte nun nach einer Adoptivfamilie für mich, was sich aufgrund meines Alters als schwierig herausstellte, mir aber recht war, denn ich wollte ja nicht adoptiert werden. Mittlerweile war ich zwölf, als sich meine leibliche Mutter meldete. Ich zog also aus dem Internat zur Mutter nach Hamburg, nachdem ich ihr das Versprechen abnahm, die Wochenenden wieder bei meinen Pflegeeltern zu verbringen. Die nächsten Jahre waren eher improvisiert. Um es kurz zu machen: es entstand keine Beziehung zu meiner Mutter und auch nur eine distanzierte Beziehung zu ihrer Familie. Was meine Mutter beruflich tat, wusste ich nicht, darüber wurde nicht gesprochen. Es roch zumindest nach Rotlicht. Meine Mutter zog dann zu ihrem Freund, behielt jedoch ihre Wohnung, in der ich nun praktisch allein lebte. Immerhin sorgte sie dafür, dass ich versorgt war. Trotzdem war das Verhältnis zu meiner Mutter von Spannungen dominiert, was damit zu tun hatte, dass sie in mir meinen Vater sah. Ich zählte die Jahre bis zu meiner Volljährigkeit. Später wurde mir erzählt, dass meine Mutter mich nur zu sich nahm, weil ihre Familie sie enterben wollte, wenn sie sich nicht endlich um ihren Sohn kümmern würde. Das leuchtete mir ein. Mit siebzehn nahmen die Spannungen zu. Ich brach die Fachoberschule ab und bewarb mich bei der Marine, wurde angenommen und verpflichtete mich für sechs Jahre. Den Kontakt zu meiner Mutter brach ich ab. Ich erkannte die Bundeswehr als Möglichkeit, Abstand zu meiner improvisierten Kindheit zu bekommen. Und die Bundeswehr rettete mich tatsächlich. Ich konnte mit dem Kapitel meiner Eltern endlich abschließen. Der Kontakt zu meinen Pflegeeltern blieb bis zu deren Tod.

Erst als ich viele Jahre später selbst Vater wurde, dachte ich wieder an meine leiblichen Eltern. Aus der ursprünglichen Wut und dem Hass, den ich für Vater und Mutter empfand, wurde Unverständnis und Mitleid. Der einzige Respekt blieb meinem Vater, der es damals zumindest versuchte. Jegliche Kontaktversuche, den Eltern meinen Standpunkt zu erklären und ihnen zu vermitteln, dass sie nunmehr Großeltern geworden sind, blieben unbeantwortet. Das respektiere ich bis heute. Unverständnis und Mitleid sind als einziges geblieben. Ich hoffe, sie haben ihren Seelenfrieden gefunden.

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