„Ab sofort, unverzüglich“

SED-Funktionär Günter Schabowski

Welches historische Ereignis fasziniert dich am meisten?


Das faszinierendste historische Ereignis war für mich bisher der Fall des eisernen Vorhangs. Völlig gewaltlos und fast konfliktfrei. „Wer hätte das gedacht?“ – diese, mehr eine Feststellung als eine Frage, war in dieser Zeit oft zu hören.

Dieses sozialistisch-deutsch-demokratische: der Zettel bei dieser denkwürdigen Pressekonferenz am 9. November 1989 von Günter Schabowski, diese beiläufige Notiz, dass die Grenzen jetzt geöffnet werden, „ab sofort, unverzüglich!“. Diese tapsig-ungeschickte deutsche Kapitulation. Da schien unser westdeutsche Außenminister Hans-Dietrich Genscher doch um einiges staatsmännischer, als er 1989 in jenen kalten Tagen kam, stand und sprach, oben auf dem Balkon der deutschen Botschaft in Prag, um die Ausreise der Flüchtlinge aus diesem anderen Deutschland bekanntzugeben. Unter Geschrei der Freude. Was für große Dramen!
Diese ganzen Monate zwischen 1989 und 1990 hatten es überhaupt in sich. Erst diese ganzen politischen Umwälzung und dann schließlich die Grenzöffnung. Als ob die Achtzigerjahre es noch einmal so richtig zeigen wollten. Ich empfand es so, denn ich war selbst Zeuge dieser Ereignisse.

Klassenreise Berlin, August 1989
Klassenreise Berlin, August 1989


Erst wenige Wochen vorher war ich selbst noch in Ostberlin gewesen. Ein Milchbubi, wie man an einem überlieferten Foto aus diesen Tagen feststellt. Klassenfahrt nach Berlin, mit dem obligatorischen Ostbesuch, inklusive Zwangsumtausch: 25 West für 25 Ostmark. Daneben hatte ich noch über 100 Ostmark, die man mir im Westen familienseitig zum Schmuggel anvertraute. Wäre mir klar gewoerden, was für ein reicher Mann ich damit im Osten plötzlich war, wäre ich verblüfft gewesen. Ich hatte vielmehr Schwierigkeiten, dieses Geld während der wenigen Stunden einigermaßen vernünftig unter die Leute zu bringen. In einem Kaufhaus am Alexanderplatz investierte ich einen Großteil in Kassetten des staatlichen Labels „Amiga“. Westimporte: Peter Gabriel, Sting; solche Sachen. Außerdem spendiere ich mir Unmengen von Softeis in einer Milchbar. Und eine „Ketwurst“ unter den Linden. Was für ein seltsames Geschmackserlebnis. Eigentlich ekelhaft, dass ich damals überhaupt noch Fleisch gegessen habe. Das war kurz, bevor mein Kumpel diese merkwürdige Idee hatte, beim FDJ Sekretariat vorbeizugehen. Gegenüber von der russischen Botschaft gab es da einein Eingang mit einem Messingschild. Das ganze war natürlich spontan: Wir sind da also durch den Fahrstuhl hoch, vorbei an zwei wachhabenden Volkspolizisten, haben angeklopft und standen ehrfürchtig vor dem Schreibtisch irgendeines Apparatschik.
Was wir wollen würden?
Wir wären, so meinten wir einigermassen verständlich vor diesem Funktionär, Freunde der freien deutschen Jugend und ob wir eventuell ein FDJ-Aufnäher haben könnten…? Farin Urlaub von der Funpunkband „Die Ärzte“, soviel sollte dazu erklärt werden, hatte so einen Aufnäher auf seinem Gitarregurt. Ich weiß aber gar nicht mehr, ob ich diesen popkulturellen Hintergrund in irgendeiner Form erklärte. Es folgte ein fürchterliches Donnerwetter. Ob wir provozieren wollten oder so etwas ähnliches, wurde gefragt. Wir wurden rausgeschmissen. Fahrstuhl wieder runter, an den Wachen vorbei nach draussen.
Wenig später erzählte man uns, dass wir froh sein konnten, nicht verhaftet worden zu sein.
Vermutlich hatten die aber schon ganz andere Probleme.
In diesen letzten Monaten der „DDR“.
Das war glaube ich im August.
Im November ist dann die Mauer gefallen.
Immerhin noch drüben gewesen, denke ich mir jetzt.

Leserbrief schreiben